Der Mann, der nichts vergessen konnte
bedeuten.«
Afsahi strich sich nervös über den Schnurrbart. »Ich… ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.«
Tim hatte in den letzten Tagen dazugelernt, er merkte, dass er seinem Gastgeber Unbehagen bereitete. Nachdem er schon bei Jamila auf Grund gelaufen war, wollte er es sich nicht auch noch mit dem Professor verscherzen. Also zuckte er betont gleichgültig mit den Schultern und sagte: »Vergessen Sie’s.
Spielen wir eine Partie?«
Mit sichtlicher Erleichterung fing Afsahi den Ball auf.
»Gerne. Ich habe mich schon den ganzen Tag darauf gefreut.
Heute will ich eine neue Eröffnung ausprobieren.«
»Da bin ich aber gespannt.«
Das Glück war dem Gastgeber hold. Er zog Weiß, konnte damit also nicht nur die Partie beginnen, sondern auch die Initiative übernehmen. Sein Damenbauer wanderte auf das Feld d4 und der von Tim als Erwiderung nach d5, womit sich die beiden Figuren direkt gegenüberstanden. Der Professor setzte einen zweiten Bauern von c2 nach c4 und gab ihn damit dem Gegner preis.
Tim tat Afsahi den Gefallen und schlug den weißen Bauern auf c4. Er musste schmunzeln. »Ich liebe die Klassiker. Neu ist das ›Angenommene Damengambit‹ allerdings nicht. Es wurde erstmals 1512 analysiert.«
Der Professor blieb konzentriert. »Warten Sie meine Figurenentwicklung ab. Sie werden sich noch wundern.«
Afsahi schlug sich wacker an diesem Abend, geriet aber trotzdem während des Mittelspiels immer mehr ins Hintertreffen. Tim konnte die Initiative übernehmen, taktierte geschickt gegen den isolierten weißen Bauern und brachte seine eigenen Figuren strategisch klug in Stellung. Erst im Verlauf des Endspiels kam der Professor wie gewohnt auf Tims Arbeit zu sprechen. »Wie ist es heute in der Bibliothek gelaufen?«
»Eigentlich normal.«
»Warum nur eigentlich?«
»Ich habe zwar erst dreihunderteinundsiebzig Publikationen memoriert, aber trotzdem kommen mir allmählich Bedenken.«
»In welcher Beziehung?«
»Wir haben aus dem Bibliothekskatalog dreitausend Titel ausgewählt. Was ist, wenn das Schlüsselwerk nicht dabei ist?«
»Dann ist Ihr Gedächtnis um dreitausend Bücher reicher.«
»Und wir sind wieder da, wo wir am Anfang gestanden haben.«
»Die Auswahl der Titel ist ja nicht willkürlich, Tim. Wir hatten sie vor Ihrem Kommen sorgfältig zusammengestellt.
Und Sie waren zwei Tage lang damit beschäftigt, das Verzeichnis unserer Sammlungen zu studieren und Ihre Ergänzungs- oder Streichungswünsche einzubringen.«
»Sie haben recht, ich kann die gesichteten Teile des Katalogs im Schlaf aufsagen. Trotzdem beschleicht mich das Gefühl, nur Spiegelfechterei zu betreiben.«
Afsahi positionierte seinen Läufer auf Konfrontationskurs mit Tims König, stoppte durch Drücken der Schachuhr seine Bedenkzeit, notierte den Zug in einem schwarzen Büchlein, sagte: »Schach«, und lehnte sich zurück.
Eine Weile sah er Tim nur an, ehe sein Blick wieder zur Uhr wanderte. »Manchmal muss man sich auf seinen Bauch verlassen, mein Freund. Ich bin Historiker und habe gelernt, immer die Zeit in die Gleichung mit einzubeziehen: Vielleicht sollten Sie nicht nur Bücher aus der Epoche von Thomas Beale lesen, sondern auch ein paar Werke über seine Epoche.«
»Sie meinen Geschichtsbücher?«
Der Professor nickte. »Warum nicht? Möglicherweise gibt uns ein Kollege den entscheidenden Hinweis, eine Abkürzung, wie Sie schneller zu dem Schlüsselwerk finden. Wenn Sie möchten, stelle ich Ihnen morgen eine kleine Auswahl geeigneter Fachliteratur zusammen.«
»Das wäre sehr nett.« Tim spürte wieder Zuversicht.
»Sie sind am Zug, Kollege.«
Der schwarze Springer zog zwei Felder vor und eins nach links. Tim tippte den Knopf an der Uhr. »Schachmatt. Fordern Sie Revanche?«
Am Samstagmorgen um neun waren Tim und Jamila die ersten Besucher im Lesesaal. Er hatte eigentlich mit ihrem Widerspruch gerechnet, als er ihr vom Gespräch des vergangenen Abends erzählte und ihr die Liste mit Zircon Afsahis Leseempfehlungen zeigte, aber JJ nahm die Abweichung von der »Speisefolge« erstaunlich gelassen hin.
Bis zum späten Mittag hatte Tim sechs Titel memoriert. Zwei widmeten sich ausschließlich der Amerikanischen Revolution vom Ausbruch der Krise zwischen Großbritannien und seinen Kolonien um 1763 bis zur Verabschiedung der Verfassung durch den eigens dafür einberufenen Konvent am 17. September 1787. Außerdem inhalierte Tim vermittels eines dritten Buches den Zeitgeist, der Beale geprägt haben
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