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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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kriegen.«
    »Hoffentlich keine roten Rosen.«
    Er stutzte. »W-wieso?«
    »Erotische Angebote werden im Berufsalltag leicht als sexuelle Belästigung gedeutet und schwer geahndet.«
    Trotz größter Mühe gelang es Tim nicht, ihre Äußerung eindeutig einer der beiden Kategorien Warnung oder Entwarnung zuzuordnen. Um Schwierigkeiten zu vermeiden, trat er den geordneten Rückzug an. »Zum Glück gab’s nur Pralinen. Wie ich sehe, hast du die Doctrina Christiana bekommen.«

    Sie deutete auf ihre Lektüre. »Ja, eine englische Erstausgabe von 1825 und sogar ein Faksimile des Originals. Am besten, du nimmst dir zunächst die Übersetzung vor. Mit Latein konnte TJB vermutlich nicht viel anfangen.«
    Tim verzichtete auf den Hinweis, dass man einen Text nicht verstehen musste, um ihn für eine Buchverschlüsselung zu benutzen, und vertiefte sich stattdessen in den Stoff. Darin fand er tatsächlich nicht nur eine Menge Thesen, sondern auch biblisch untermauerte Beweisführungen für die Sterblichkeit der Menschenseele, die Ungleichheit zwischen Gott und seinem Sohn sowie für einige andere theologische Zweifelsfragen. John Milton war für seine berühmte Dichtung Das verlorene Paradies (das längst in Tims Gedächtnis lagerte) in den Olymp der Literaten erhoben worden, aber hier hatte er eine Streitschrift verfasst, die den Widerstand der Mächtigen aus Kirche und Staat provozieren musste. Kein Wunder, dass dieses letzte große Werk einer grandiosen Laufbahn sang- und klanglos in der Versenkung verschwunden war. Insofern würde seine De Doctrina als metaphorische Anspielung auf die verschollene Urschrift der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung gut passen.
    Doch das erwartete Funkeln in Tims Geist blieb aus.
    »Stimmt was nicht?«, fragte irgendwann Jamila undeutlich.
    Sie kaute gerade an einem Schokobömbchen.
    »Ich sehe nichts.« Er rechnete mit einer Äußerung wie: Hab ich’s dir doch gleich gesagt.
    Doch sie lüpfte nur die Augenbrauen und fragte: »Was nun?«
    Sein Blick wanderte zur lateinischen Urfassung, De Doctrina Christiana, auf dem Tisch. Er grübelte einen Moment, dann zog er das Buch zu sich heran und begann zu lesen.
    Da Tim der lateinischen Sprache mächtig war, verstand er nicht nur Miltons erstaunlich präzise formulierten Gedankengänge und bemerkte gewisse Abweichungen zur vorher memorierten Übersetzung, er stellte vor allem fest, dass der Text in seinem Sinn zu leuchten begann, als blicke er in sternenklarer Nacht auf die Milchstraße. »Ich hab’s gefunden«, flüsterte er.
    »Den Schlüssel?«, fragte neben ihm ebenso leise Jamila.
    Er nickte. »Zum Blatt III der Beale-Chiffre.«
    »Nur zum dritten?«
    »Ja. Für seine Schatzkarte im ersten hat er sich offenbar etwas Besonderes ausgedacht.«
    »Kannst du den Text aufschreiben?«
    »Klar. Wenn du einen Stift und Papier besorgst. Aber frag nicht den Bullen da vorne. Der hätte mich vorhin am liebsten in der Luft zerrissen.« Tim deutete auf den Mann, der immer noch einige Reihen vor ihm saß.
    »Nicht nötig. Ich habe ein Ringbuch dabei.« Sie holte eine Collegemappe unter dem Tisch hervor und versorgte Tim mit allem, was er brauchte.
    Er schloss die Augen. Das von ihm verlangte Gedankenkunststück erforderte höchste Konzentration. Jede Zahl des dritten von Beale verfassten Blattes stand für ein Wort in der De Doctrina, und dessen jeweiligen Anfangsbuchstaben übertrug er penibel, ungefähr im Sekundentakt, auf den Zettel aus Jamilas Ringbuch. Das fertige Ergebnis war für ihn ein Schock.

    Die Integrität der unten aufgeführten Begünstigten ist über jeden Zweifel erhaben. Sie sollen mein Erbe treuhänderisch verwalten. Dazu bilden sie ein Komitee, das mit Zweidrittelmehrheit alle notwendigen Entscheidungen trifft.  Sie können mein Erbe in ein Stiftungsvermögen überführen oder es in anderer geeigneter Form folgender Zweckbestimmung entsprechend einsetzen: Das Geheimnis der unechten Unabhängigkeitserklärung muss so lange bewahrt werden, wie dem Wohl der Vereinigten Staaten von Amerika durch die Lüge besser gedient ist als durch die Wahrheit. Als Treuhänder meines Vermögens in diesem Sinne ernenne ich folgende Personen:
    Harry Heine, Berlin
    Thomas Jefferson, Monticello (Virginia)  
    J acob Rosenholz, Berlin
    William H. Russel, New Haven
    Alphonso Taft, New Haven
    Rahel Varnhagen von Ense, Berlin

    »Alle Achtung!«, sagte Jamila, nachdem sie den von Tim entschlüsselten Text gelesen hatte.
    Der war völlig perplex. Nicht so

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