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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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durch den Kopf. Der Job wäre erledigt, das Team würde sich auflösen, und er würde die Frau seiner Träume möglicherweise nie Wiedersehen. Hatte sie ihn deshalb abblitzen lassen? Wollte sie vermeiden, dass er seine Suche absichtlich verlangsamte, um sich nicht so bald von ihr verabschieden zu müssen? Vielleicht bedeutete er ihr ja doch mehr als ein Wellensittich…
    Ich muss ihr, bevor mir womöglich der Durchbruch gelingt, irgendwie zeigen, wie viel mir an ihr liegt, war sein nächster, aufgeregter Gedanke. Aber wie? Er könnte ihr neunundzwanzig rote Rosen schenken. Neunundzwanzig war nicht nur ihr Lebensalter, sondern auch eine Primzahl. Sie würde das sicher zu schätzen wissen. Aber wo auf dem Campus fand er so schnell einen Blumenladen? Nein, verwarf er den Einfall wieder, fürs Erste musste er eine schnellere, wenn auch weniger romantische Lösung finden.
    »Pralinen!«, hauchte er.
    Ja, das war gut! Pralinen verdarben zwar die Figur, aber als Ad-hoc-Zuneigungsbeweis waren sie allemal geeignet. Auf dem über die Stadt verteilten Campus gab es ein breites Angebot an Süßigkeiten, weil Studenten diese als Nervennahrung klassifizierten. Fatal wäre nur, wenn Jamila zurückkehrte, seinen Platz verwaist vorfände und sich auf die Suche nach ihm begäbe. Er musste ihr eine kurze Nachricht hinterlassen. Dummerweise hatte er keine Notizzettel, weil er ja niemals Merkhilfen benutzte. Er sah sich im Lesesaal um.
    An diesem Vormittag war der Raum nur von wenigen Studierenden besetzt. Einige Reihen vor ihm saß ein Mann mit ausnehmend breiten Schultern – die Nähte seines grauen Fischgrätsakkos drohten schier zu platzen. Dem schwarzgrauen Haarschopf nach zu urteilen, war er kein Student. Tim erhob sich, lief zu dem Forscher oder Dozenten vor, beugte sich zu ihm herab und raunte: »Entschuldigen Sie bitte die Störung.«
    Der Leser drehte ruckhaft den Kopf zu ihm herum und blickte ihn durch getönte Gläser erschrocken an. Sein Gesicht und die dunkle Haut ließen Tim spontan an Zircon Afsahi denken – vielleicht hatte er ja einen Kollegen des Dekans vor sich. Über dem linken Auge des sichtlich überraschten Orientalen prangte anstelle der Braue eine breite Narbe. Zur Kaschierung dieses Makels trug er vermutlich den breiten Brillenrahmen, der ihn wie eine in Selbstbräuner gebadete Version von Henry Kissinger aussehen ließ. »Was ist?«, knurrte der Mann mit deutlichem Akzent.
    »Ich wollte nur fragen, ob Sie mir kurz Ihren Kugelschreiber leihen. Und einen Zettel von Ihrem Block hätte ich auch gerne.«
    »Nehmen Sie sich, was Sie brauchen. Ich wollte sowieso gerade zum Waschraum gehen.« Der Kraftprotz erhob sich und stapfte in Richtung Toiletten davon.
    »Tut mir wirklich leid«, rief ihm Tim hinterher. Der Davoneilende drehte sich nicht mehr um, sondern quittierte seine Entschuldigung nur mit einer wegwerfenden Geste.
    Tim kritzelte eine kurze Mitteilung aufs Blatt: Bitte warte auf mich! Bin gleich wieder da und übersetze die Chiffre für dich. Tim
    Er riss den Zettel vom Block, kehrte zu seinem Leseplatz zurück und deponierte die Nachricht exakt konzentrisch auf einem Buch, wobei die Außenkanten desselben parallel zu denen des Blattes verliefen. Anschließend eilte er aus dem Saal.

    Im bibliothekseigenen Tea Room kaufte er eine Schachtel Konfekt, nichts Edles, nur die üblichen haselnussgefüllten Schokobömbchen, mit denen Studenten zur Ankurbelung ihrer Denkkraft die ärztlich empfohlene Kalorientagesdosis vervielfachten. Seine Frage nach einer Geschenkverpackung stieß bei der Kassiererin auf wenig Gegenliebe – sie entriss ihm das Geld und jagte ihn zum Teufel.
    Atemlos kehrte er in den Lesesaal zurück, wo er Jamila an seinem Arbeitstisch in die Miltonsche Streitschrift vertieft vorfand. Als er neben sie trat, blickte sie von dem Buch auf und musterte schmunzelnd die Pralinenbox in seiner Hand.
    »Ich habe das vorhin nicht so ernst gemeint, Tim«, sagte sie.
    »Wenn du was zu essen brauchst, dann hole ich es dir gerne. Allerdings wusste ich nicht, dass du so ein Naschkater bist.«
    Er reichte ihr das transparente Plastikkästchen. »Das ist für dich gedacht. Ein kleines Dankeschön, weil du so viel für mich gelaufen bist. Und auch eine Entschuldigung, weil ich dich wie selbstverständlich habe laufen lassen.«
    Sichtlich gerührt nahm Jamila das Geschenk entgegen. »Das ist lieb von dir. Danke.«
    »Eigentlich wollte ich dir ja Blumen schenken, aber die waren auf die Schnelle nicht zu

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