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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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dürfte.
    Ein vierter Wälzer informierte ihn über die politischen Entwicklungen im England des 18. Jahrhunderts. Und ein zweibändiges Werk behandelte ausführlich die Geschichte der Universitätsbibliothek von Cambridge.
    Dabei machte er eine Entdeckung.
    Es begann wie so oft mit einem Funkeln in seinem Geist. Er war gerade auf den Namen John Milton gestoßen. Der große englische Denker und Literat hatte in Cambridge studiert und manche Stunde in der Universitätsbibliothek zugebracht. In Cambridge erwarb er auch 1632 seinen »Master of Arts«, einen Magistergrad. Als Tim das Jahr las, hatte das Leuchten begonnen. Manchmal spielte sein außergewöhnlicher Sinn für Zahlen im Hintergrund anderer Denkprozesse mit den im neuronalen Speicher abgelegten Daten herum. So war es auch jetzt.

    Seine Aufmerksamkeit wurde, als er unbewusst die letzten beiden Ziffern aus Miltons Abschlussjahr vertauschte – also aus der »32« eine »23« machte – auf ein besonderes Ereignis im Jahr 1823 gelenkt. Damals war im Old State Paper Office in der Middle Treasury Gallery von Whitehall John Miltons letztes großes, bis dahin nie veröffentlichtes Werk De Doctrina Christiana wiederentdeckt worden. Einhundertfünfzig Jahre hatte es in dem Londoner Archiv herumgelegen, bis es einem gewissen Robert Lemon sen. im November besagten Jahres in die Hände fiel. Zwei Jahre später erschien dann Miltons Zur christlichen Lehre in einer englischen Übersetzung.
    Er berichtete Jamila von seinen Überlegungen. Nur eine Erinnerung, über deren Einfluss auf seine Assoziation er sich unschlüssig war, erwähnte er nicht: Er hatte erst kürzlich einen Nachdruck der lateinischen Urfassung des Werkes zu Gesicht bekommen, nicht hier in der Bibliothek allerdings.
    Sie musterte ihn mit einem unergründlichen Blick.
    »Was ist?«, fragte er.
    »Findest du deine Erklärung nicht ein bisschen dünn?«
    »Die Wissenschaft hat vielfach bewiesen, dass die einfachen Lösungen oft die richtigen sind.«
    »Was ist daran einfach?«
    »Das Funkeln in meinem Kopf.« Als ihr skeptischer Blick nicht weichen wollte, seufzte er. »Dem Buch hier zufolge hatte John Milton in seiner Streitschrift rigoros mit religiösen Dogmen der Katholiken und Glaubenslehren der Protestanten abgerechnet, um diese als unbiblische Lügen zu entlarven. Und Beale hielt die Unabhängigkeitserklärung ebenfalls für eine Lüge. Ich habe ein gutes Gefühl bei der Sache. Könntest du mir das Buch besorgen?«
    »Vielleicht ist es gar nicht im Bestand.«
    »Doch, ist es.«

    »Du sagst das, weil du den Bibliothekskatalog im Kopf hast?«
    Er nickte.
    Ihre Stirn legte sich in Falten. »Manchmal bist du mir richtig unheimlich, Tim.«
    »Tut mir leid. Wäre ich dir sympathischer, wenn ich ab und zu mal was vergessen würde?«
    »Fängst du schon wieder damit an? Du bist mir sympathisch.
    Abgesehen davon dürfte die englische Übersetzung des Werkes erst 1825 registriert und hier hinterlegt worden sein.
    Das liegt drei Jahre außerhalb unseres Zeitfensters.«
    »Was sind schon drei Jahre? Außerdem liegen 1823, als die Doctrina Christiana wiederentdeckt wurde, und 1822, als Beale nach Europa floh, nur ein Jahr auseinander. Was, wenn die Chronisten sich geringfügig geirrt haben? Vielleicht hat TJB auch in London Zwischenstation eingelegt und bereits den Entwurf der Übersetzung studiert? Oder sogar das lateinische Original? Es gibt Dutzende von Gründen, Zircons Rat zu beherzigen.«
    »Was hat der Professor damit zu tun?«
    »Er meinte gestern, man müsse sich manchmal auf seinen Bauch verlassen. Sei bitte so lieb und bring mir Miltons Christian Doctrine. Vielleicht lässt du dir von der Ausgabe auch gleich die lateinische Fassung geben – sicher ist sicher.«
    »Warum holst du sie dir nicht selbst?«, konterte sie schnippisch.
    Er fühlte sich von ihrer Antwort auf dem linken Fuß erwischt.
    »D-du«, stammelte er, »du hast doch bisher immer für mich…« Er stand auf. Sie hatte ja recht. »Ich gehe schon.«
    Ihre Hand legte sich rasch auf seinen Arm. »Ist schon gut.
    Bleib sitzen. Dir ist es ja offensichtlich ziemlich ernst mit deinem Bauchgefühl. Warte einen Moment. Ich bin gleich wieder bei dir.«

    Er seufzte leise, als die Wärme ihrer Hand von ihm wich und Jamila sich zum Gehen wandte. Still schmachtend verfolgte er ihr anmutiges Davonschreiten. Der Schwung ihrer Hüften machte ihn schwindeln. Vielleicht konnte er sie ja beeindrucken, wenn er fündig wurde…
    Aber was dann?, schoss es ihm

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