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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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über seine Lippen kamen. »Ich hatte gedacht, wir könnten Freunde sein, Jamila.«
    In ihre Miene schlich sich ein Ausdruck der Verletzlichkeit, doch ihre Stimme blieb hart. »Freundschaft steht nicht im Vertrag, Tim. Ich schätze dich als Kollegen, doch du solltest dir nicht die Hoffnung auf mehr machen.«
    »Aber…«
    »Nicht!«, erstickte sie seinen Widerspruch im Keim, die Hände abwehrend erhoben, und mit einem Mal klang sie nur noch müde und traurig. »Lass es gut sein, Tim. Du bist vielleicht ein schräger Vogel, aber ich mag dich trotzdem. Das muss genügen. Was mit meinem Freund passiert ist, habe ich dir ja erzählt. Vielleicht ziehe ich das Unglück an. Du sollst nicht so enden wie er.«

    Tim kam wieder schneller voran. An ein weiteres Rendezvous mit Jamila wagte er nicht zu denken. Sicher, sie hatte gesagt, dass sie ihn mochte. Vielleicht so, wie andere ihren Wellensittich mögen?, fragte er sich. Leute mochten auch junge Katzen, Lasagne mit Chips, umweltgerechte Mülltrennung oder Geranien. Mehr hatte sie ihm nicht zugestanden. Jetzt war er mit Paul Simon gleichgezogen und konnte dessen 50 Ways to Leave Your Lover voller Inbrunst mitsingen:

    The problem is all inside your head, she said to me The answer is easy if you take it logically

    I’d like to help you in your struggle to be free There must be fifty ways to leave your lover

    »Das Problem ist nur in deinem Kopf«, sagte sie zu mir. »Die Antwort ist leicht, wenn du es logisch betrachtest. Ich möchte dir bei deinem Kampf helfen, frei zu sein. Es muss fünfzig Wege geben, seine Liebste zu verlassen.«
    Ob der Musiker dabei an ihn gedacht hatte, Tim Labin, den Wissenden, dessen wichtigste Erinnerung gleichwohl im Dunkel verschüttet lag? Das Problem ist nur in deinem Kopf.
    Jamila hatte ihm tatsächlich geholfen, frei zu sein. Frei vom Kampf um ihre Gunst. Er hatte den fünfzigsten Weg gefunden.
    Es war wohl der daraus entspringende Frust, der ihn einmal mehr das Vergessen im Rausch des Memorierens suchen ließ.
    Sogar wenn die Pforten der Universitäts-Bibliothek schlossen, wollte er seinem Geist keine Ruhe gönnen. Am Abend nach Jamilas Abfuhr hatte er Afsahis Einladung zu einer Schachpartie angenommen, und seitdem spielten sie fast täglich. Nebenher nutzten sie die regelmäßigen Treffen immer auch im Sinne des Projekts. Tim erstattete von seinem Tagewerk Bericht, und Afsahi machte gelegentlich Vorschläge, den ein oder anderen Titel vorzuziehen oder zurückzustellen.
    Auf dem karierten Schlachtfeld schlug sich Zircon Afsahi gar nicht so übel. Zwar nahm Tim sich gelegentlich zurück, um ihm einen Vorteil einzuräumen, doch hin und wieder musste er sich sogar anstrengen, wenn er nicht verlieren wollte. Von Mal zu Mal schätzte er den »alten Perser« mehr – so nannte sich der Professor gelegentlich selbst, und meistens präsentierte er dabei sein schalkhaftes Basarhändlerlächeln. Der Dekan war ein umgänglicher Zeitgenosse, geistreich, selten um eine Antwort verlegen und ein stets aufmerksamer Gastgeber.

    Genau eine Woche, nachdem Tim in der »Venezianischen Gondel« untergegangen war, bemerkte er beim Betreten von Afsahis Wohnzimmer erneut eine merkwürdige Figurenanordnung auf dem Schachbrett. Zwar fehlten diesmal die Muscheln und Schneckenhäuser, aber trotzdem war die Stellung schlicht unmöglich, weil das Regelwerk nur bestimmte Züge zuließ.
    »Hatte Ihre Haushälterin heute wieder ihren kreativen Tag?«, fragte Tim verwundert. Einmal mehr flimmerte das Muster in seinem Geist, ohne dass er sich diese Rückmeldung aus seinem Unterbewusstsein erklären konnte. Und abermals eilte Afsahi herbei und wischte die Figuren vom Brett.
    »Ja, bitte entschuldigen Sie die Unordnung. Rose hat dem Staub heute wieder den Krieg erklärt.«
    »Aber heute ist Freitag. Sie sagten, der gute Geist in Ihrem Haus würde jeden Dienstagmorgen putzen.«
    »Das soll ich gesagt haben?«
    »Ich kann’s wörtlich wiederholen, wenn Sie möchten.«
    »Nicht nötig. Ich habe mich nur unklar ausgedrückt.
    Wischen, Saugen und Entstauben steht zweimal auf Rose’
    Wochenplan: Dienstag und Freitag.«
    »Ah!« Tim betrachtete nachdenklich den Haufen der zusammengefegten Spielsteine. »Sagen Sie, Zircon, könnte es sein, dass Ihre Rose da – wie soll ich mich ausdrücken? – ihr eigenes Spiel spielt?«
    Der Professor erbleichte. »Eigenes…? Wie meinen Sie das?«
    »Ich habe das Gefühl, die Steine waren nicht zufällig angeordnet. Die Stellung scheint etwas zu

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