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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sehr wegen ihrer abgeklärten Art, die ihm ja mittlerweile hinlänglich vertraut war – unter der schönen Hülle steckte offenbar eine durch und durch rationale Wissenschaftlerin. Was ihn viel mehr überraschte, ja, regelrecht erschütterte, war einer der Namen in Beales Vermächtnis. Er hatte die Entschlüsselung kaum zu Ende bringen können, ihm fehlten die Worte.
    »Da steht Jacob Rosenholz. Könnte ein Vorfahre von dir sein«, kommentierte Jamila.
    Er stutzte. »Ich dachte, du kennst meinen Geburtsnamen gar nicht. Bisher hast du ihn nie erwähnt.«
    »Tatsächlich?«
    »Wenn es so wäre, könnte ich dir sagen, wann es war, wo es war und welche Worte du gebraucht hast.«
    Ihre Miene verriet Unbehagen. »Manchmal vermittelst du einem wirklich das Gefühl, an einem Lügendetektor zu hängen, Tim.«
    »Tut mir leid.«
    Sie verdrehte die Augen zur Decke. »Anstatt die Fettnäpfchen zu meiden, sagst du immer nur: ›Tut mir leid.‹«

    »Das habe ich von meinem Therapeuten gelernt. Er meinte, so merkt meine Umwelt nicht so leicht, dass es mir an Einfühlungsvermögen mangelt. Hast du meine Stasi-Akte gelesen, oder woher kennst du meinen ursprünglichen Namen?«
    »Als wir darüber sprachen, dich für unser Projekt anzuheuern, habe ich mich gründlich über dich informiert.«
    Tim hätte zu gerne gewusst, was in Jamilas Kopf vorging, doch ihre grünen Augen waren in diesem Moment so unergründlich wie Gletschereis. Er deutete auf den Klartext.
    »Bei mir dreht sich alles. Wenn Jacob Rosenholz tatsächlich ein Vorfahre von mir ist, dann…« Verwirrt schüttelte er den Kopf.
    »Dadurch bekommt das Ganze eine ungemein persönliche Note.«
    Er sah sie verwundert an. »Genau diese Worte hat Zircon benutzt, als wir an unserem ersten gemeinsamen Abend bei ihm über Beale und seine Kurzschlussreaktion in Lexington sprachen.«
    »Ich weiß. Vermutlich denkst du jetzt: ›Das alles kann doch kein Zufall sein!‹«
    »Ist wohl nicht schwer zu erraten. Hast du davon gewusst, Jamila?« Er erschauerte, weil in ihrem Gesicht etwas geschah, das er so zuvor noch nicht erlebt hatte. Es schien zu einer Porzellanmaske zu erstarren. Unmöglich, ihre Gedanken zu erkennen.
    Sie antwortete nicht.
    Er zog aus ihrem seltsamen Verhalten seine eigenen Schlüsse. »Also hast du es gewusst. An jenem bewussten ersten Abend in Zircons Haus hast du in Verbindung mit den Rosenholz-Dateien etwas Bemerkenswertes gesagt: ›Uns fiel auf, dass einige der in den Karteikarten erfassten Personen gestorben sind, lange bevor die DDR überhaupt gegründet wurde. Das große Los zogen wir bei einem gewissen Amos A. Bethel.‹ Fällt dir auf, was ich meine?«
    Jamila sah ihn weiter aus diesem puppenhaft starren Gesicht an, ohne etwas zu erwidern.
    »Na schön«, sagte er, »dann erkläre ich es dir: Du erwähntest  ›einige Personen‹, hast dann aber nur Amos Bethel beim Namen genannt. Gehe ich recht in der Annahme, dass ein weiterer Name Jacob Rosenholz lautete?«
    Endlich wurde aus ihrer maskenhaften Miene wieder ein menschliches Gesicht, und sie hauchte: »Ja.«
    »Warum hast du mir nicht früher davon erzählt?«
    »Aus Gründen der Geheimhaltung. Außerdem fürchteten wir, deine Leistung würde darunter leiden.«
    »Das ist Unsinn. Selbst wenn ich wollte, ich kann gar nichts vergessen.«
    »Das sagst du, weil du dich besser kennst als jeder andere Mensch. Aber wir waren da weniger überzeugt. Du solltest zur gegebenen Zeit von deinem Ahnen erfahren, Tim.«
    Er kam sich mit einem Mal ausgenutzt vor. Betrogen. Und das von Jamila. Tief enttäuscht schüttelte er den Kopf. »Ich dachte, wir wären Freunde.«
    Sie hielt seinem anklagenden Blick trotzig stand und erwiderte kühl: »Dann musst du doch vergesslich sein. Bei unserem Essen im Restaurant habe ich dir letzte Woche nämlich erklärt, wie ich darüber denke.«
    »Ich weiß noch genau, was du gesagt hast: ›Freundschaft steht nicht im Vertrag, Tim.‹ Aber manchmal sagen Menschen das eine und meinen in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Ich hätte nie gedacht, dass du mich so belügst.«
    Jamila funkelte ihn zornig an, raffte ihr Ringbuch und den Filzschreiber zusammen, stopfte alles in ihre Collegemappe und strebte im Stechschritt dem Ausgang entgegen. Während sie selbst auf niemanden achtete, zog sie die Blicke des ganzen Saals auf sich. Auch die des bulligen Mannes mit der fehlenden Augenbraue.
    Nachdem Tim seine erste Benommenheit abgeschüttelt hatte, lief er ihr nach. Am Ausgang holte er sie

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