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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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viel über diese Dinge.«
    »Ich habe einen Kurs besucht.«
    Tim beschlich das Gefühl, ihr flapsiger Kommentar sei mehr als die gewohnte Standardantwort, doch er wollte das Thema vor dem SIS-Mann nicht weiter vertiefen. Stattdessen fragte er:
    »Wie war vorhin deine Bemerkung mit dem Trampen zum Flughafen gemeint?«
    Sie stöhnte leise. »Das hat mit dem erwähnten Chaos zu tun.
    Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, Tim. Am kritischsten sind momentan die Angriffe auf technische Einrichtungen wie Stellwerke der Bahn oder die Straßenverkehrs-Überwachung.
    In deren Computern haben die Meister des Endspiels offenbar schon vor Längerem ein paar ganz eklige Schädlinge versteckt.
    Anstatt die Steuerungssysteme außer Betrieb zu setzen, bringen sie alles durcheinander. In der City von London spielen die Ampelanlagen verrückt, der Verkehr ist komplett zusammengebrochen. Und im Süden der Stadt sind zwei Züge zusammengestoßen. Aus den Ballungszentren in den Vereinigten Staaten gehen ähnliche Berichte ein. Dagegen klingen die Nachrichten aus der Wirtschaft fast wie der Wetterbericht an einem lauen Sommertag.«

»Ich nehme an, weil in diesem Bereich die Manipulationen nicht so leicht zu erkennen sind, oder?«
    »Absolut richtig. Die meisten Kommentatoren halten – wie sagte ein Sprücheklopfer so schön? – ›die Turbulenzen für den ganz normalen Wahnsinn, der die Welt alle paar Jahrzehnte heimsucht‹. Fakt ist, dass diverse Firmen in den letzten Tagen ihre Zahlungsunfähigkeit melden mussten. Dazu gehören auch etliche Versorgungsunternehmen, die ja während der letzten Jahre in vielen Ländern privatisiert worden sind: Strom- und Gaslieferanten, Telefon- und Zustelldienste und eben die Verkehrsgesellschaften. In immer mehr Regionen bricht der öffentliche Nahverkehr zusammen, obwohl die Weichen noch richtig arbeiten. Rund um London kommt alles zusammen; da geht so gut wie gar nichts mehr. Sogar einige Flughäfen taumeln schon am Abgrund des Konkurses. Es wird gemunkelt, Heathrow gehöre auch dazu. Die Luftfahrtgesellschaften bekommen jetzt die Quittung für ihren langen, oft mit hohen Verschuldungen ausgetragenen Preiskampf. Einige der Big Player streichen massenhaft Flüge.
    Delta Air hat gestern den Flugbetrieb eingestellt – deshalb fliegen wir jetzt um 11.05 Uhr mit der Aer Lingus über Dublin nach Washington.« Sie schöpfte tief Atem. »Appetit auf mehr?«
    »Danke, mir ist schon schlecht.«
    Der Fahrer drehte das Radio lauter, weil gerade eine aktuelle Verkehrsmeldung kam. Sie zog sich über mehrere Minuten hin. Die Pendler waren aufs Auto umgestiegen und damit vom gemütlichen Sitzen im Zug zum Stillstand auf der Straße. Das Chaos hatte auch von den Autobahnen rund um London Besitz ergriffen.
    »Die M25 ist dicht. Ich versucht über die Umgehungsstrecken«, erklärte Rodney unaufgeregt und wechselte die Fahrbahn.
    Diese Idee hatten ungefähr auch drei Millionen andere Engländer, dies jedenfalls war Tims Eindruck. Auf den Nebenstrecken floss der Verkehr kaum besser als auf den großen Motorways. Immer wieder kamen sie nur im Stop-and-go-Tempo voran.

    »Wir verpassen unseren Flug«, sagte Jamila nach etwa vier Stunden. Bis nach Heathrow waren es noch knapp zwanzig Kilometer.
    Rodney grinste in den Rückspiegel. »Der Tod verspätet sich nie. Deshalb sind bei uns pünktliche Flüge aus Sicherheitsgründen verboten. Ich denke nicht, dass sie ausgerechnet heute davon eine Ausnahme machen.«
    Für gewöhnlich liebte Tim den britischen Humor, im Moment jedoch hätte er den Fahrer erwürgen können.
    Gegen elf trafen sie endlich am Terminal 1 des Heathrow Airports ein. Beim Anblick der Menschenmassen meldeten sich bei Tim ein paar alte Bekannte wieder: Herzrasen, Schweißausbrüche, Beklemmung. Vermutlich war er kreidebleich, aber Jamila dachte nur an die Maschine, deren planmäßiger Abflug in etwa fünf Minuten war.
    »Bitte warten Sie noch, bis ich die Lage gepeilt habe, Captain«, bat sie den Fahrer, stieß die Wagentür auf und sprang förmlich aus dem Fahrzeug.
    Tim blieb sitzen.
    Sie streckte den Kopf wieder hinein. »Du siehst aus wie frisch gekalkt. Ist dir nicht gut?«
    Er starrte nur auf das Gewusel vor dem Terminal. Tim war nicht zum ersten Mal in Heathrow, aber nie hatte er hier so viele, so hektische, so schlecht gelaunte Menschen gesehen.
    Mit einem Mal lächelte sie, streckte ihm die Hand entgegen und sagte auf eine unwiderstehlich sanfte Art: »Komm! Ich halte dich fest.«
    Von jedem

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