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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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verständlich, dass sie über ihre Mitgliedschaft in einer Verbindung schwieg, welche bekanntermaßen über ihre Interna nach außen striktes Stillschweigen bewahrte? Die Antworten auf diese Fragen gab es nicht im Internet. Er würde sie selbst herausfinden müssen.
    Die Bedenkzeit war abgelaufen. Misslaunig begab er sich in den großen Lesesaal.

    Als Jamila am Freitagmorgen um kurz nach sechs in Tims Quartier aufkreuzte, schien ihr schönes Gesicht um Jahre gealtert zu sein.
    »Was ist passiert?«, fragte er.
    »Chaos – das ist passiert.«
    »Könntest du dich vielleicht etwas klarer ausdrücken?«

    »Hast du heute etwa noch nicht den Fernseher eingeschaltet?«
    »Muss ich darauf antworten?«
    »Ich erzähl dir alles unterwegs. Schnapp dir deinen Koffer und komm mit. Der MI6 hat uns einen Wagen samt Fahrer zur Verfügung gestellt. Zum Glück ist der britische Auslandsgeheimdienst noch nicht privatisiert, sonst müssten wir womöglich nach Heathrow trampen.«
    Tim verbuchte die sonderbare Bemerkung auf das Konto von Jamilas unübersehbarer Verdrossenheit. Sie hatte in den letzten Tagen vonseiten ihres Chefs viel Druck bekommen und sich zur Entschädigung von Tim ein Wunder gewünscht, aber das war ausgeblieben – die von ihm memorierten vierzehn Titel hatten ihm nicht die erhoffte Erleuchtung gebracht. Um Jamilas Nerven zu schonen, verabschiedete er sich ohne Umschweife von Mrs Atkinson. Die Wirtin drückte ihm als Wegzehrung einige in Zellophan verpackte Blaubeermuffins in die Hand und wünschte ihm eine gute Reise. Wenige Sekunden später saß er auf der Rückbank eines blauen Ford Taurus neben Jamila und wiederholte seine Begrüßungsfrage.
    »Eine neue Weltwirtschaftskrise«, antwortete Jamila übellaunig. »Die Wall Street ist binnen weniger Tage zum Mahlstrom geworden, der rund um den Globus die Börsen mit in die Tiefe reißt. Das Wort vom ›Schwarzen Montag‹ geht bereits um. Die Analysten und Wirtschaftsexperten sagen, so etwas sei in Anbetracht der bekannten Ursachen eigentlich nicht möglich, aber es passiert trotzdem.«
    »Die Meister des Endspiels?«, fragte Tim sinnfällig. Er bemerkte, wie der Fahrer ihn im Rückspiegel musterte.
    Jamila nickte und deutete nach vorn. »Das ist übrigens Captain Linus Rodney vom MI6. Du kannst in seiner Gegenwart ruhig offen reden. Der Secret Service arbeitet mit uns in der Sache eng zusammen.«

    Tim nickte Rodney zu. »Gibt es Beweise, dass da hinter den Kulissen manipuliert wird?«
    »Ja. Aber leider nichts, aus dem sich eine geeignete Abwehrstrategie entwickeln ließe. Die Terroristen haben das ganze Arsenal an Malware eingesetzt: Viren, Würmer, Trojaner und was es noch so alles an Schädlingen gibt. Bei einigen Banken, die dieser Tage um ihr Überleben kämpfen, kamen Botnets zum Einsatz.«
    »Botnets?«
    »Das sind massive Angriffe von manchmal einhunderttausend oder mehr PCs auf einen Server. Sie wirken auf ihn wie im Mittelalter ein Steinhagel aus einer Batterie von Schleudern auf eine Ritterburg: Die Verteidigungswälle brechen unter der gewaltigen Last schlichtweg zusammen oder die ganze Festung wird zu Staub zermahlen. In harmlosen Fällen zwingen Botnets Server nur in die Knie, was mitunter kostspielige Produktionsausfälle nach sich zieht – Distributed Denial of Service werden solche Angriffe genannt. Nach so einem DdoS wird der Rechner neu gestartet, und alles geht seinen gewohnten Gang. Manchmal ist das aber ein Trugschluss. Wenn die Cyberwarriors richtig fies sind – und hier waren sie es –, dann dringen sie durch die von ihnen geschlagenen Breschen ins System ein und richten gewaltigen Schaden an.«
    »Ich denke, man kann jeden Rechner im Netz anhand seiner Kennung identifizieren. Wäre es da nicht ein Leichtes, die Angreifer mit so einer Art Fangschaltung zu lokalisieren?«
    »Du meinst die IP-Adresse? Die nützt bei den Botnets nichts, weil die Angriffe von den Maschinen ahnungsloser PC-Besitzer kommen: Irgendwann haben die sich beim Surfen im Internet einen Virus oder Trojaner eingefangen, und auf ein verabredetes Zeichen hin erwachen die Schädlinge zum Leben, bombardieren das Opfer mit Anfragen oder schütten es mit Mails zu. Die Ermittler finden in solchen Fällen nur Unschuldige und vielleicht den Virus, der sich aber nicht mehr zu seinem Urheber zurückverfolgen lässt. Bis jetzt wissen unsere Experten nicht mal, wie da ins Horn geblasen wurde, um die Botnets zur Attacke zu rufen.«
    »Für eine Historikerin weißt du erstaunlich

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