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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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anderen hätte er dieses Angebot als Drohung aufgefasst, nicht aber von Jamila. Er griff nach dem fünffingrigen Rettungsanker und ließ ihn nicht mehr los.
    Gemeinsam betraten sie die Abflughalle. Auch dort herrschte der Ausnahmezustand. Auf der Anzeigentafel dominierten die Worte »Cancelled« und »Verspätet«. Tim merkte, wie sich seine Atemfrequenz beschleunigte. Er kannte die Folgen der Hyperventilation, aber davon wurde er auch nicht ruhiger. Wo er auch hinsah, waren Menschen. Sie belegten sämtliche Sitze, campierten mit ihrem Gepäck auf dem Boden oder verstopften die Durchgänge. Und sie machten ein Geräusch, dass sein Kopf davon zu zerplatzen drohte.
    »Da drüben ist unser Schalter«, sagte Jamila mit einem Deuten des Kinns und zog ihn einfach in die schäumende Gischt der Leiber hinein.
    Tim war schwindelig. Die Leute nahm er nur verschwommen als gesichtslose Wesen wahr. Er fühlte sich wie eine kleine Sprotte in einem Schwarm von Makrelen. Seine Rechte umklammerte noch fester Jamilas Hand.
    Am Check-in-Schalter der irischen Luftfahrtgesellschaft hatte sich eine aufgebrachte Menge zusammengerottet. Im Schutz der Anonymität wurden Drohungen ausgestoßen, Fäuste reckten sich in die Höhe. »Ich muss nach Hause; meine Frau kriegt ein Kind«, brüllte jemand. »Sie können die Maschine doch nicht einfach ausfallen lassen«, protestierte ein anderer.
    »Nicht!«, flehte Tim, als ihn Jamila mitten in diesen brodelnden Pfuhl des Unmuts hineinziehen wollte.
    Sie schnaufte. »Ich muss aber an den Schalter und fragen, was mit dem Flug ist.«
    »Ich schwöre dir, wenn ich da hineingehe, dann drehe ich durch.«
    »Also gut, dann pass auf: Du bleibst hier stehen, und ich erkundige mich nach der Maschine. Ich bin so schnell wie möglich wieder bei dir.«
    »Aber du hast versprochen, mich…«
    »Jetzt benimm dich nicht wie ein kleines Kind, Tim!«, fuhr sie ihm über den Mund.
    Er klappte den Mund zu. Sie hatte ja recht. Irgendwie würde er es schon überleben.

    Sie legte ihm ihre Hand an die Wange, als wolle sie sich für ihre schroffe Maßregelung entschuldigen, lächelte noch einmal und verschwand in der Menge.
    Für eine gewisse Zeit half ihm die Erinnerung an ihre Berührung tatsächlich über die Angst hinweg. Es war eine von ihr neue, ganz zärtliche Geste gewesen. Ob sie ihn doch mehr mochte als einen Wellensittich? Vielleicht bedeutete er ihr tatsächlich…
    Plötzlich wurde Tim grob nach vorne gestoßen. Um nicht hinzufallen, machte er einen und noch einen Ausfallschritt und landete mitten im Gewühl der Wartenden. Das war der Moment, als sein Verstand sich verabschiedete und die Gefühle die Oberhand gewannen.
    Er begann zu schreien.
    Der Bodycheck war von einem stiernackigen Riesen gekommen, der Tims Reaktion persönlich nahm. Vielleicht dachte er, das für ihn unverständliche Gebrüll sei eine Beschimpfung in Afrikaans oder einer anderen ihm fremden Sprache. Möglicherweise war der Hüne aber auch nur selbst mit den Nerven am Ende, und der Zusammenstoß hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Jedenfalls wollte er die Provokation des Fremden nicht auf sich beruhen lassen.
    »Was willst du, du Kaffer?«, blaffte er Tim mit einem unverkennbar irischen Akzent an.
    Der begriff nicht im Geringsten, was sich da zusammenbraute, wollte nur aus der Menge freikommen, in die ihn der Rüpel gestoßen hatte, aber ausgerechnet der verstellte ihm den einzigen Fluchtweg. Tim kreischte wie am Spieß, schlug mit den Händen um sich, als müsse er einen Schwarm Killerbienen abwehren, und hieb auch sich selbst immer wieder gegen den Kopf. Dabei taumelte er dem Rohling direkt in die Arme.

    Selbiger packte ihn mit seinen Pranken am Kragen, schüttelte ihn und donnerte: »Ich lasse mir doch von einem Schwachsinnigen wie dir nicht den letzten Platz in der Maschine wegschnappen.«
    Tims Antwort bestand in noch lauterem Schreien. Er kniff die Augen zu und hämmerte sich auf den Schädel. Schließlich begann er zu hecheln, so schnell, dass ihm die Stimme versagte. Alles um ihn herum drehte sich. Und dann verlor er die Besinnung.

    Als er aus der Ohnmacht erwachte und die Augen aufschlug, fand er eine Situation vor, die, ähnlich wie eine Mansube im Schach, ob ihrer Komplexität gründlicher Betrachtung bedurfte. Tim lag in einer Art magischem Kreis, der ihn vor der gaffenden Menge in der Abflughalle schützte. Gesichert wurde diese Zone von Männern in dunklen Uniformen. Rechts neben ihm kauerte ein Mann in weißer

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