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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Eichhörnchen.
    »Was soll das heißen?«

    »Wir fahren direkt zum Capitol Hill. Die Eule hat unserem deutschen Genie in der Bibliothek ein Nest gebaut. Meinte, so wäre es am sichersten, und außerdem sparen wir eine Menge Zeit.«
    Tim öffnete die Augen und sah Jamila fragend an.
    Sie zuckte die Achseln. »Ich bin selbst überrascht.«
    »Mach dir nichts draus«, winkte er ab. »Ich werde leben wie die Made im Speck.« Das war nicht nur so dahingesagt. Von jeher hatte ihn allein der Gedanke an die Washingtoner Kongressbibliothek mit einem wohligen Schauer erfüllt. Sie war nach der British Library die zweitgrößte Einrichtung dieser Art weltweit. In ihrem Katalog standen nicht weniger als dreißig Millionen Bücher sowie einhundert Millionen andere Einträge. Er könnte seinen Geist dort bis ans Lebensende schwelgen lassen, ohne je wieder darben zu müssen…
    Unvermittelt stutzte Tim. Eben hatte er ein Straßenschild mit der Aufschrift »M Street NW« bemerkt.
    »Wieso machen wir einen Umweg durch Georgetown?«
    Squirrel drehte sich zu ihm um. »Sie kennen sich gut aus in Washington.«
    »Nicht wirklich. Ich habe nur den Stadtplan gelesen.«
    Jamila schmunzelte. »Er meint, er kennt ihn auswendig.«
    Die Männer auf den vorderen Plätzen wechselten einen langen Blick.
    Tim kam sich vor wie ein Kind, dem man die Wahrheit über den Weihnachtsmann vorenthielt, obwohl es sie längst kannte.
    Er war zu erschöpft für solche Spielchen und reagierte dementsprechend mürrisch. »Behandeln Sie mich nicht so von oben herab. Die Route, die am Jefferson Memorial vorbeiführt, wäre viel kürzer. Wozu also die mitternächtliche Stadtrundfahrt?«
    »Immer schön cool bleiben«, sagte Squirrel beschwichtigend.
    »Während Sie eben gedöst haben, mussten wir den Potomac an der Francis Scott Key Bridge vorzeitig überqueren. Der Parkway ist gesperrt.«
    Aus einem vagen Gefühl heraus befriedigte Tim die Antwort nicht. Er behielt die Augen von nun an offen und starrte unwirsch auf das Lichterspiel der Verkehrsampeln. Die M Street verlief wie mit dem Lineal gezogen von West nach Ost, wodurch er mehrere Kreuzungen überblicken konnte.
    Kurz vor Erreichen der 23. Straße sprang das Lichtzeichen auf Rot um. Der Aspen stoppte vor dem Fußgängerüberweg. Aus der Querrichtung kam kein einziges Fahrzeug.
    »Ist was?«, fragte Jamila.
    Er zuckte die Achseln. »Ich habe das Gefühl, die Ampeln ticken nicht richtig.«
    »Wie meinst du das?«
    »Man könnte glauben, sie wollten uns den Verkehr vom Hals halten.«
    »Wer? Die Ampeln?« Jamila deutete nach hinten, wo man durch die Rückscheibe zwei weitere Autos heranrollen sah, und grinste. »Mir scheint, du siehst Gespenster, Tim, was mich nicht verwundert. Schließlich haben wir gerade Geisterstunde.«
    Er konnte über ihren Scherz nicht lachen und beharrte: »So tot habe ich die Stadt jedenfalls noch nie erlebt. Außerdem gab es bei meinem letzten Besuch hier nachts auf den Hauptverkehrsstraßen immer grüne Welle.«
    Als hätte die Ampel auf sein Stichwort gewartet, schaltete sie wieder um. Knight setzte die Fahrt fort.
    Kurz vor der 22. Straße, also nur wenige Meter weiter, sprang die Lichtsteuerung abermals auf Rot. Diesmal jedoch blieb zum Bremsen keine Zeit mehr, und Knight trat stattdessen aufs Gaspedal. Das SUV preschte, von dreihundertvierzig Pferdestärken getrieben, über die Kreuzung. Die zwei nachfolgenden Fahrzeuge blieben an der Ampel zurück.

    Mit einem Mal war die Geländelimousine allein auf weiter Flur. Tim warf Jamila einen beredten Blick zu, während sie von den Fliehkräften einmal nach links, dann wieder nach rechts geworfen wurden – der schwere Wagen überquerte in hohem Tempo die New Hampshire Avenue und setzte danach einige Meter weiter nördlich seinen Weg auf der M Street fort.
    Die schnurgerade Straße wirkte wie ausgestorben. Auf Höhe der 19. Straße blinkte ein Licht.
    Knight stieß einen Fluch aus.
    »Was gibt’s?«, erkundigte sich Jamila.
    »Schon wieder eine Umleitung«, antwortete Squirrel genervt anstelle des Kollegen.
    Tim starrte auf das pulsierende gelbe Licht der Baustellenabsperrung und schüttelte den Kopf.
    Neben ihm stöhnte Jamila. »Was ist jetzt schon wieder?«
    Das sportliche Nutzvehikel bog nach rechts ab. Etwa einhundertfünfzig Meter voraus verengte sich die Straße auf eine einzige Fahrspur. Weitere Lichter sicherten die Baustelle.
    »Die Frequenz stimmt nicht. Alle drei Lampen blinken zu schnell«, antwortete Tim.
    »Bist du

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