Der Mann, der niemals lebte
zählte. Ferris konnte nur anerkennend lächelnd: Christina war wirklich so etwas wie eine Naturgewalt. Wenn ihr ein Weg versperrt war, brach sie sich mit aller Kraft neue Bahnen. Zu ihren wertvollsten Gaben gehörte zweifellos, dass sie sich das Leben nicht unnötig mit Selbstzweifeln schwer machte. Und wenn sie sich für etwas entschieden hatte, ging sie einfach los und holte es sich. Nun war die Zukunft auch für Ferris wieder offen, er konnte mit gutem Gewissen zurück nach Amman gehen, zurück zu der Frau, die er liebte. Einen Haken hatte die Sache allerdings: Im Zentrum seiner Beziehung zu Alice Melville stand noch immer eine Lüge.
Amman
Ham Salaam bestellte Ferris noch am Tag seiner Rückkehr aus Ankara zu sich. Am Telefon sagte er nur, es sei dringend und habe mit Incirlik zu tun. Der Medienrummel um die Autobombe kam gerade erst richtig in Fahrt, und Ferris befürchtete, dass Hani irgendetwas tun könnte, was das Netz, das sie so mühselig gesponnen hatten, an einer entscheidenden Stelle zum Reißen brachte.
Als Ferris beim Hauptsitz der jordanischen Geheimpolizei ankam, fiel ihm auf, dass die Verwaltung im Eingangsbereich ein neues Porträt des Königs hatte aufhängen lassen. Im Gegensatz zu dem alten Bild, das Seine Majestät gut gelaunt und entspannt im kurzärmeligen Hemd mit Frau und Kindern gezeigt hatte, präsentierte das neue den Monarchen in der Uniform seiner Sondereinsatzkommandos, den Blick entschlossen in die Ferne gerichtet, wo wohl bereits ein unsichtbarer Feind lauerte. So ändern sich die Zeiten, dachte Ferris. Vorbei war es mit den unbeschwerten Reden über Reformen und Erneuerungen – jetzt waren die Führer der arabischen Welt auf engstem Raum mit lauter Skorpionen zusammengepfercht.
Hani selbst wirkte elegant wie immer, und die Kämpfe, die um ihn herum ausgefochten wurden, schienen ihn kaum zu berühren. Er trug ein königsblaues Hemd ohne Krawatte, dafür aber mit schweren, goldenen Manschettenknöpfen. Sein grauer Anzug saß auf eine Weise, wie es nur ein Maßschneider hinbekam: Die Hosenbeine endeten millimetergenau auf den Schuhen, und das Jackett war ganz dezent tailliert. Am Revers trug er das amerikanische Weihnachtssymbol, eine winzige, rot-weiß gestreifte Zuckerstange – ob aus Respekt vor seinem amerikanischen Gast oder vor seinen wenigen Angestellten christlichen Glaubens, konnte Ferris nicht beurteilen.
»Frohe Weihnachten«, sagte Hani, ergriff Ferris’ Hand und hielt sie einen Augenblick fest. »Sie sind doch Christ, oder? Ich glaube, ich habe Sie das nie gefragt – die Amerikaner sind ja heutzutage alle so schrecklich religiös, schlimmer als die Saudis. Aber Weihnachten ist schließlich für alle da, nicht wahr? Hier in Jordanien haben selbst Muslime Weihnachtsbäume.«
»Ich bin nicht gläubig«, sagte Ferris. »Die Weihnachtslieder mag ich ganz gern, aber ich habe schon Vorjahren aufgehört, in die Kirche zu gehen, weil ich das Glaubensbekenntnis nicht mehr über die Lippen bringe. Ich kam mir vor wie ein Heuchler, etwa so wie ein Muslim, der heimlich Alkohol trinkt. Aber ich weiß Ihre Nachfrage durchaus zu schätzen.«
»Wie geht es denn eigentlich Mrs. Ferris?« Hani hatte ihn noch nie nach Christina gefragt. Das konnte kein Zufall sein.
»Wir lassen uns scheiden. Die Papiere müssten in ein paar Wochen fertig sein.«
»Ja, davon hatte ich bereits gehört. Ich hoffe, es ist nicht allzu schlimm für Sie.«
»Es ist bestens, Hani. Alles bestens.« Der Jordanier zog vor ihm eine Schau ab, um Ferris ganz deutlich zu zeigen, dass er über sein Privatleben Bescheid wusste. Wahrscheinlich hatte er auch von dem drohenden Disziplinarverfahren gehört, doch was dieses Thema betraf, hielt er es mit der Diskretion.
Ferris hatte keine Lust auf Smalltalk. Die hektischen Aktionen in der Türkei und das letzte Telefonat mit Hoffman steckten ihm immer noch in den Knochen. »Sie sagten am Telefon, Sie hätten etwas Wichtiges für mich, Hani. Wie wir in Amerika sagen: ‹Ich bin ganz Ohr.«›
»Ja, mein Lieber, darauf wollte ich eben kommen. Ich glaube fast, wir können Ihnen bei der Aufklärung dieses furchtbaren Anschlags in Incirlik ein wenig behilflich sein. Mein herzliches Beileid übrigens.« Er zog ein Foto aus einer Mappe auf seinem Schreibtisch und legte es vor Ferris hin.
Es zeigte Omar Sadiki mit seinem gepflegten, kurzen Bart und den frommen, leicht misstrauischen Augen. Offensichtlich handelte es sich um die Vergrößerung eines
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