Der Mann, der niemals lebte
der sich vor seinem Tod im Jahr 2000 mit unkonventionellen Interpretationen der Lehren Mohammeds einen Namen gemacht hatte. Seine Auslegung der Hadithe stand oft in krassem Gegensatz zu der trockenen Orthodoxie altvorderer Religionsgelehrter. Den eher extremistisch gesinnten Befürwortern des salafistischen Islam, die die Korruption des modernen Lebens beseitigen und zum reinen, kriegerischen Ethos der Zeit des Propheten zurückkehren wollten, galt Albani als eine Art moderner Heiliger. Seine Anhänger waren in Syrien, Saudi-Arabien und Jordanien verstreut, doch das Zentrum der Bewegung war eine Moschee in Zarqa, wo viele seiner Anhänger nach ihrer Vertreibung aus Syrien Zuflucht gefunden hatten. Experten verschiedener Geheimdienste glaubten zu wissen, dass eines der Mitglieder der Zarqa-Moschee ein geheimnisvoller jordanischer Architekt war, der es in extremistischen Kreisen zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hatte. Den Reportern gegenüber erzählten sie jedoch nichts davon.
Dank der Arbeit von Ajit Singh gab es noch viele weitere Beweisschnipsel, und schon bald stellten die Experten fest, dass es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der salafistischen Rhetorik der Albani-Brigade und diversen Äußerungen auf anderen dschihadistischen Websites gab. Dort tauchte zum Beispiel seit einigen Monaten immer wieder die arabische Wendung »Nah nu rijal wa hum rijal« auf, die man mit »Sie sind Menschen, und wir sind Menschen« übersetzen konnte. Für die Gotteskrieger bedeutete das, dass die traditionellen Interpretationen des Koran und der Hadithe auch nicht mehr Gültigkeit besaßen als die der radikalen Salafisten. Das war die Essenz von Albanis Aufruf zur radikaleren Auslegung der Schriften. Ein Artikel im Londoner Daily Telegraph zitierte britische Analysten, denen eine weitere, auf einer Reihe von Websites veröffentlichte Äußerung des radikalen Salafistenscheichs Abdel-Rahim al-Tahhan aufgefallen war: »La khayrafi qur’an bi-ghayri sunna, wa la khayrafi sunna bi-ghayrifahm salafha al-silah.« Auch dies war nichts anderes als eine Unabhängigkeitserklärung – in diesem Fall von der Sunna, dem traditionellen Kanon der Sunniten: »Im Koran gibt es nichts Gutes außer der Sunna, und in der Sunna gibt es nichts Gutes außer ihrem rechtschaffenen Verständnis durch die Salafisten.« Das, so warnte die englische Zeitung, seien die neuen Killer – noch sehr viel gefährlicher als die Bombenleger von Mailand und Frankfurt.
Es dauerte vierundzwanzig Stunden, bis erste Informationen über die Arbeit der vom FBI unterstützten türkischen Ermittler an die Öffentlichkeit durchsickerten und schließlich in aller Welt Schlagzeilen machten: Der Anschlag von Incirlik zeige starke Ähnlichkeiten mit vergleichbaren Attentaten der al-Qaida. Kriminaltechniker, so hieß es, hätten bestätigt, dass Sprengstoff und Zündmechanismus der Bombe bis ins Detail denen anderer in Istanbul explodierter Sprengsätze glichen.
Keine echte Operation kann jemals perfekt sein, doch als Ferris das Schattenspiel der virtuellen Ereignisse verfolgte, musste er feststellen, dass künstlich fabrizierte Ereignisse sehr viel besser zu perfektionieren waren als die Ereignisse im wirklichen Leben. Er erinnerte sich an einen Ausspruch der Literaturwissenschaftlerin Janet Malcolm, der ihm in seiner Zeit als Reporter Anfang der Neunziger sehr imponiert hatte. Es gebe nur eine einzige Form der schriftlichen Äußerung, so Malcolm, deren Genauigkeit nicht in Frage gestellt werden könne – und das sei die Fiktion. Ähnliches traf auch auf den Bombenanschlag von Incirlik zu. Die Behauptung, dass eine zornige neue Terrorgruppe es geschafft habe, die Amerikaner mitten in einer ihrer Militärbasen empfindlich zu treffen, wurde von der ganzen Welt als Wahrheit angesehen und erschütterte viele Menschen – am meisten aber die wirklichen Bombenleger.
Inmitten der Aufregung über diesen neuerlichen Anschlag erhielt Ferris eine E-Mail von Christina. Zuerst war er beunruhigt, als er den Absender sah, doch dann bewirkte die Mail in gewisser Weise das genaue Gegenteil bei ihm. In der Betreffzeile stand: »Du hast es geschafft«, und die Mail selbst enthielt lediglich die Kopie einer kurzen Meldung aus der Klatschspalte der Washington Post, die besagte, dass eine in Scheidung lebende Anwältin des Justizministeriums beim vorweihnachtlichen Bummel am Arm eines ranghohen Beraters des Präsidenten gesehen worden sei, der zu Washingtons begehrtesten Junggesellen
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