Der Mann, der niemals lebte
CIA. Sie ist bei einer humanitären Organisation beschäftigt, die sich um palästinensische Flüchtlinge kümmert. Das ist keine Tarnung, das ist echt. Alice ist genau das, was sie zu sein scheint.«
»Trotzdem könnte aber jemand vermuten, dass sie für die CIA arbeitet?«
Ferris sah Hani mit starrem Blick an. »Ja.«
»Und zwar, weil sie diesen Sadiki kennt. Und Sie.«
»Ja.« Ferris’ Stimme war kaum mehr als ein bitteres, schuldbeladenes Flüstern.
»Und jetzt müssen Sie sie so schnell wie möglich finden, bevor die al-Qaida ihre Verhörmethoden bei ihr ausprobiert.«
Das Wort »ausprobiert« jagte Ferris einen kalten Schauer über den Rücken. »Bitte, Hani, Sie müssen mir helfen. Ohne Ihre Hilfe finde ich sie niemals.«
»Und das ist auch bestimmt kein Trick von Ihnen oder Ed Hoffman?« Es war eine grausame Frage, die Ferris aber nach dem, was vor ein paar Monaten vorgefallen war, durchaus verständlich fand. Irgendwo tief in seinem Innern war Hani wohl immer noch verärgert wegen der Berlin-Geschichte. Ferris vergrub das Gesicht in den Händen und saß zusammengesunken auf der Bettkante wie ein hilfloses Häuflein Elend.
»Verzeihen Sie mir, Roger. Das hätte ich nicht sagen sollen.« Hani legte Ferris den Arm um die Schultern. »Natürlich helfe ich Ihnen. Wir haben ein paar Informanten tief im Netzwerk der al-Qaida, mit denen wir ziemlich schnell Kontakt aufnehmen können. Wir wenden uns nur im Notfall an sie, aber das hier ist ein Notfall. Sie können uns ganz bestimmt sagen, ob Alice entführt wurde – aber ob sie auch wissen, wo sie sich momentan befindet, das steht in den Sternen. Und jetzt werde ich gehen und mit meinen Männern reden.«
Er stand auf und nahm Ferris bei den Händen, um ihn hochzuziehen. »Na los, stehen Sie auf«, sagte er. »Gott stellt Sie auf eine harte Probe. Er ist mächtig, und Sie sind sein Sklave. Abd-Allah. Der Sklave Gottes. So nennen wir das. Sie können Ihrem Schicksal nicht entfliehen, deshalb müssen Sie glauben und auf Gott vertrauen. Kommen Sie mit, und reden Sie mit meinem Team. Wir wollen keine Zeit verlieren. Sie müssen jetzt stark sein.«
Ferris stand auf, ging ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Dann ging er zurück ins Wohnzimmer, wo die anderen Männer warteten.
Amman/Washington
Über Nacht verstärkte sich der Sandsturm weiter. Es war ein heftiger Wind, der aus Saudi-Arabien kam und den Sand der Wüste Sinai in einer gewaltigen, mehrere Kilometer breiten Wolke vor sich hertrieb. In Amman kam der Verkehr an diesem Abend fast völlig zum Erliegen. Auf allen Hauptstraßen, an jedem Kreisverkehr, entstanden Staus, und die gespenstischen Flotten bewegungsloser Fahrzeuge sahen aus wie Schiffe, die bei starkem Nebel vor Anker gegangen waren. Die wenigen Fußgänger, die sich überhaupt noch nach draußen wagten und sich dem Sturm entgegenstemmten, hatten sich ihre Kufijas so um den Kopf gewickelt, dass man durch die schmalen Schlitze kaum noch ihre Augen sah. Die ganze Stadt steckte im Sand fest – ideale Witterungsverhältnisse für Entführer, eine undurchsichtige, rötlich braune Welt, in der man sich problemlos verstecken konnte.
Ferris blieb fast die ganze Nacht in der Botschaft und wartete auf Neuigkeiten. Am Abend, nachdem er Alices Wohnung endlich verlassen hatte, rief er Hoffman über die sichere Leitung an. Anfangs zeterte Hoffman über die Verzögerung, doch als er merkte, wie erschüttert Ferris war, wurde er friedlicher. Er machte keinen Versuch, sich zu entschuldigen, sondern sagte nur, die CIA werde sämtliche Informanten vor Ort mobilisieren, um Alice Melville ausfindig zu machen. Die Kunst dabei war, die Suche so durchzuführen, dass ihre Entführer nicht auf die Idee kämen, ihnen sei eine wichtige Person ins Netz gegangen.
»Wir werden sie finden«, sagte Hoffman. Er gab sich die größte Mühe, optimistisch zu klingen, aber aus irgendeinem Grund stürzten seine Worte Ferris nur noch tiefer in die Verzweiflung. Er musste den Hörer einen Augenblick beiseitelegen, während Hoffman am anderen Ende: »Hallo, sind Sie noch dran?« rief. Als Ferris sich wieder meldete, empfahl Hoffman ihm, sich hinzulegen und ein bisschen zu schlafen. Ferris versprach, das zu tun, doch er wusste, dass es ihm nicht gelingen würde. Sobald er sich auf das Sofa in seinem Büro legte, sah er vor seinem inneren Auge Bilder von Alice, gefesselt und geknebelt im Kofferraum eines Wagens oder in irgendeinem feuchten Kellerloch. Oder schlimmer
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