Der Mann, der niemals lebte
noch: Bilder davon, wie sie verhört und gefoltert wurde – wie man ihr den Arm so lange verdrehte, bis er schließlich brach.
»Sie hätten mir von dieser Alice erzählen sollen, Kumpel«, sagte Hoffman. »Davon, dass sie Sadiki kannte, meine ich. Dann hätten wir sie eine Zeit lang aus der Schusslinie nehmen können.«
Ferris gab keine Antwort. Er wusste, dass das gelogen war.
Hoffman hätte gar nichts unternommen. Er sagte das jetzt nur im Nachhinein, wo das Unglück bereits geschehen war.
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, mein Junge«, fuhr Hoffman fort, »das Wichtigste ist, alle in einem solchen Fall üblichen Prozeduren einzuleiten. Die Botschaft muss bekannt geben, dass das Mädchen entführt wurde. Irgendwer – aber auf keinen Fall Sie – muss diese Gutmenschenklitsche, für die sie arbeitet, dazu bringen, die Entführer in einer öffentlichen Erklärung darum zu bitten, Ihr Goldkind freizulassen. Überreden Sie den Pressesprecher der Botschaft, dass er das macht. Er soll auch die jordanischen Zeitungen anrufen und ihnen Informationen über Alice geben. Al Dschasira und Al Arabia soll besser der Chef ihrer Organisation übernehmen und denen unmissverständlich klarmachen, dass hier eine Frau entführt wurde, die ihr ganzes Leben damit verbringt, unterdrückten Arabern zu helfen. Nur so kommt sie wieder frei, verstehen Sie? Mit der Wahrheit. Die CIA hat überhaupt nichts mit ihr am Hut. Ich habe mit dem Außenministerium gesprochen, der Botschafter wird mit ein paar höhergestellten Palästinensern reden und versuchen, den einen oder anderen inoffiziellen Kanal aufzumachen. Er wird zwar behaupten, dass wir keinesfalls dafür zahlen, sie wieder freizukriegen, aber wenn’s sein muss, werden wir das natürlich trotzdem tun. Das weiß jeder. Also halten Sie durch.«
Ferris brachte nichts weiter als ein zustimmendes Murmeln zustande. In diesem Moment war er froh darüber, dass Hoffman so einen kühlen Kopf bewahrte und genau wusste, was zu tun war. Die Medien wurden informiert, die geheimen Telefonate getätigt, und am nächsten Morgen war die Entführung von Alice Melville der Aufmacher aller jordanischen und amerikanischen Tageszeitungen. Die meisten Artikel zitierten Alices Chef, den Vorstand des Hilfswerks für Nahost-Unterstützung, mit den Worten, Alice Melville sei »die beste Freundin, die sich die arabische Bevölkerung wünschen könne«, und ihre Entführung ein »schrecklicher Irrtum«. Eine Meldung der Agence France-Presse erwähnte als Erste, dass Alice Melvilles Freund als politischer Beamter bei der Botschaft der Vereinigten Staaten arbeite. Die AFP zitierte einen anonymen »westlichen Diplomaten« – vermutlich aus der französischen Botschaft –, der darüber spekulierte, dass Melvilles Beziehung zu dem ungenannten amerikanischen Botschaftsmitarbeiter möglicherweise der Grund für ihre Entführung sein könnte.
Hanis Leute vom GID arbeiteten effizient und unter den gegebenen Umständen sogar recht schnell, und das Labor des King-Hussein-Krankenhauses stellte bereits am Tag nach der Entführung fest, dass das Blut vom Küchenboden dieselbe DNA enthielt wie die Haare, die man auf Alices Bürste gefunden hatte. Die Fingerabdrücke in der Wohnung stammten fast ausnahmslos von Alice selbst und von Ferris, was darauf schließen ließ, dass die Entführer Handschuhe getragen haben mussten. Immerhin konnte man den Fußspuren auf dem Boden entnehmen, dass es mehrere gewesen sein mussten. Sie hatten das Schloss an der Haustür und das an der Wohnungstür so vorsichtig aufgebrochen, dass dabei nur wenig Schaden entstanden war. Es handelte sich also offenbar um Profis, nicht um Gelegenheitstäter. Ferris war sich nicht sicher, ob das die Sache für Alice besser oder schlechter machte.
Hani suchte Ferris am nächsten Morgen in der Botschaft auf. Das war sehr ungewöhnlich: Sonst bestand der Pascha immer darauf, dass man sich zu ihm begab. Doch diese Situation änderte alles. Sie trafen sich in dem abhörsicheren Besprechungsraum, den die CIA für Gespräche mit ihren Verbindungsleuten beim GID benutzte. Ferris sah sehr mitgenommen aus. Seine Haut, sonst immer straff und leicht gebräunt, wirkte schlaff und fahl, und die dunklen Ringe unter seinen Augen sahen aus wie mit Kohlestift hingemalt. Auch die Augen in seinem von Leid und emotionalem Stress gezeichneten Gesicht funkelten nicht mehr vor Neugier wie früher, sondern sahen aus, als hätten sie in einen tiefen Abgrund geblickt.
Der Chef
Weitere Kostenlose Bücher