Der Mann, der niemals lebte
Auto vorgefahren war. Bevor sie ihn zwei Treppen hinaufführten, verbanden sie ihm wieder die Augen, diesmal aber relativ locker. Als man ihm die Augenbinde abnahm, sah er, dass er in einem großen Zimmer stand, das sich vermutlich im hinteren Teil des Hauses befand. Weil die Vorhänge zugezogen waren, herrschte in dem Raum ein fahles Dämmerlicht, aber nachdem man Ferris auf einen Stuhl gesetzt hatte, flammte ein helles Licht auf, und er blickte ins Objektiv einer auf ein Stativ montierten Videokamera. Angst durchzuckte ihn wie ein weißer Blitz. Gott im Himmel, dachte er, die wollen meine Enthauptung filmen, so wie sie es mit den anderen auch gemacht haben. Er schloss die Augen, um sich wieder zu beruhigen. Zumindest wäre das ein schneller Tod, dachte er und hoffte, dass er ihm gefasst ins Auge blicken konnte.
Nach zwanzig Minuten kam ein Mann in den Raum und setzte sich Ferris gegenüber auf einen Stuhl. Ferris starrte ihn eine ganze Weile fassungslos an. Mit den Lippen formte er die Worte Großer Gott, brachte aber keinen Laut heraus. Er wollte sprechen, aber vor allem verstehen.
Der Mann, der ihm da gegenübersaß, war Süleyman. Sein Haar war heller als auf dem Foto, und sein Bart war kürzer, aber es war ohne jeden Zweifel derselbe Mann, dessen Gesicht Ferris in so vielen Lagebesprechungen, auf Fahndungslisten und an die Bürowand gepinnt gesehen hatte. In natura sah er sogar noch intelligenter aus als auf dem alten Passbild. Seine Augen waren tiefe, schwarze Teiche, die einen magisch anzogen und so gut wie kein Licht reflektierten. An den Augenwinkeln konnte Ferris Lachfältchen erkennen, und die leicht nach oben gerichteten Mundwinkel ließen es fast so wirken, als würde Süleyman lächeln. Seine Miene war eine seltsame Mischung aus Neugier und eiskalter Härte. Er schien darauf zu warten, dass Ferris etwas sagte, als wäre der ein teurer Papagei, den er sich auf dem Souk gekauft hatte. Vielleicht wollte er ja auch, dass der Amerikaner ihm schmeichelte.
»Ich kenne Sie«, sagte Ferris. »Sie sind ein berühmter Mann für mich, und ich hätte nie geglaubt, dass ich Ihnen jemals von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen würde. Es muss eine große Ehre sein, dass Sie hierhergekommen sind, um mit mir zu reden.«
»Ich musste Sie einfach mit eigenen Augen sehen, Mr. Ferris. Es wäre falsch gewesen, dieses Treffen jemandem zu überlassen, der nicht über das nötige Wissen verfügt.«
Ferris begriff nicht, was er meinte. »Warum denn? Sie hätten doch auch einen Ihrer Männer für die Befragung abstellen können.«
»Sie wären Ihrer nicht wert gewesen, Sir. Denn Sie sind schließlich der Erste.«
»Der Erste«, wiederholte Ferris. Er wollte sich nicht verraten, aber er hatte keine Ahnung, was Süleyman damit meinte. Der erste gefangene CIA-Agent? Überhaupt sein erster amerikanischer Gefangener? Der Mann redete in Rätseln.
»Unser erster Überläufer.« Süleyman lächelte. In seinen mattschwarzen Augen lag fast so etwas wie ein Funkeln. »Der allererste. Und dann gleich noch von der berühmten CIA. Den musste ich mir unbedingt selbst ansehen, ich musste überprüfen, ob Sie auch wirklich echt sind. Das, was Sie uns bringen, ist so gut, dass es eigentlich einen Haken haben muss. Aber ich glaube, heute ist ein großer Tag. Wie Sie sehen, sind wir bestens vorbereitet. Wir haben sogar eine Videokamera, damit wir alles aufnehmen und über Al Dschasira der ganzen muslimischen umma zugänglich machen können, damit diese sich mit uns freut. Sie und ich, wir werden dieses Video drehen. Ein Video für die Welt.«
Ferris kniff die Augen zusammen und antwortete nicht. Er hatte sich in Süleymans Gewalt begeben, um Alice das Leben zu retten, aber damit war er doch noch lange kein Überläufer. Er fragte sich, was Süleyman hoffte, mit dieser Kamera aufzeichnen zu können, und nahm sich vor, von sich aus so wenig wie möglich zu dem Gespräch beizutragen.
»Danke«, sagte er. »Ich bin jetzt ganz in Ihrer Hand.«
»Möge Gott Ihnen gute Gesundheit schenken. Möchten Sie Tee? Oder Kaffee? Vielleicht etwas Wasser?«
»Kaffee«, antwortete Ferris. »Und Wasser.«
Süleyman rief ein paar Befehle in Richtung Tür, wo vermutlich ein Laufbursche wartete. Sogar in einem sicheren Haus hatten sie ihre Lakaien. Dann wandte er sich wieder an Ferris.
»Eines muss ich Sie gleich fragen«, sagte er. »Ich bin so neugierig, dass ich einfach nicht warten kann. Wann ist es Ihnen zum ersten Mal klar geworden, dass Sie
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