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Der Mann, der niemals lebte

Titel: Der Mann, der niemals lebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ignatius David
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verfolgten. Warum nicht? Mit einem Mal wurde es ihm klar. Als Ferris aus dem Fenster gesprungen war, musste wohl gerade das Video angelaufen sein, und das Bild eines erschütterten, geschlagenen Süleyman hatte sie in seinen Bann geschlagen. Das Gift aus der Pille hatte den ersten Knoten des Netzwerks erreicht. Von dort aus würde es sich weiter und immer weiter verbreiten, bis es in alle Adern und Nervenzellen der Organisation gedrungen war. Und dann würde langsam eine Zelle nach der anderen kollabieren, bis schließlich das ganze System in sich zusammengebrochen war.
     
    Der Taxifahrer wartete tatsächlich noch dort, wo Ferris ihn zurückgelassen hatte. Er gab ihm ein Handtuch, das er im Kofferraum hatte, und Ferris wischte sich damit das Blut ab, so gut es ging. Sein Gefühl sagte ihm, dass er besser nicht in ein syrisches Krankenhaus oder zur amerikanischen Botschaft gehen sollte. Stattdessen lotste er den Fahrer zum französischen Botschaftsgebäude. Dort erklärte er dem Wachsoldaten am Eingang, dass er dringend den örtlichen Leiter der DGSE sprechen müsse. Vielleicht war es das Blut, vielleicht auch Ferris’ wild entschlossener Blick – auf jeden Fall ließ der Soldat ihn sofort ein und setzte ihn in die Wachstube, während er seinen Vorgesetzten kontaktierte. Wenige Minuten später erschien ein Mann vom französischen Auslandsgeheimdienst in Begleitung einer Krankenschwester. Gemeinsam brachten sie Ferris auf die Krankenstation der Botschaft, wo die Schwester seine Wunden säuberte und einen Arzt rief. Dieser stellte fest, dass Ferris sich bei seinem Sturz zwei Rippen gebrochen hatte, und nähte ihm mit insgesamt vierzig Stichen seine diversen Schnitt wunden. Alles in allem, so meinte der Arzt, habe Ferris großes Glück gehabt. Als seine Verletzungen versorgt waren, erklärte er dem Mann vom DGSE, warum er in Damaskus war. Er sagte ihm nicht alles, aber doch so viel, dass sich der Franzose nicht lächerlich machen würde, wenn er den Vorfall weitermeldete. Auf seine Frage, warum Ferris denn nicht zur amerikanischen Botschaft gegangen sei, antwortete dieser: »Weil ich im Ruhestand bin«, worauf der Geheimdienstmann ihn verständnisvoll anlächelte.
    Für die Rückfahrt nach Beirut bot er Ferris einen Wagen der Botschaft samt Fahrer an, was der Amerikaner dankend akzeptierte. Es war vorbei. Jetzt gab es für ihn nur noch eines: Er musste so schnell wie möglich zu Alice zurück.
     
    Vierundzwanzig Stunden später strahlte Al Dschasira das Video aus, das der Ansager als »Geständnis eines Verräters« ankündigte. Für viele Zuschauer war es wie die öffentliche Übertragung einer Hinrichtung: So schrecklich es auch war, man konnte einfach nicht wegsehen.
    Ferris befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits wieder unter Hanis Schutz. Er sah sich die Sendung nicht einmal an, aber er wusste auch so, dass Süleymans »Geständnis« die gesamte arabische Welt in Aufruhr versetzen würde. Überall würde man von der Schande und der Schuld reden, es würde Dementis und Gegenbeschuldigungen hageln, und die Sprecher der verschiedenen islamistischen Fraktionen würden um die Wette geifern oder vor Schadenfreude strahlen oder aber jeden Kommentar verweigern. Das war keine Sensationsmeldung, die in ein paar Tagen oder Wochen vergessen sein würde – dieses Gift würde eine große Terrororganisation über Jahre hinaus lahmlegen. Wenn die al-Qaida nicht einmal einem Süleyman vertrauen konnte, diesem subtilen Strategen des Heiligen Krieges, dann war auch ihr Vertrauen in so gut wie alles andere unterminiert.

*** 
      
    Die ersten paar Tage waren nicht einfach für Alice und Ferris. Keiner von beiden wollte zu viel sagen, weil sie fürchteten, damit eine Lawine heftiger Gefühle loszutreten, die jede Chance auf echtes Glück unter sich begraben würde. Sie gingen so vorsichtig miteinander um wie ein Paar, das klug genug ist, sich gegenseitig nicht nach früheren Liebesbeziehungen auszufragen. Ferris hatte sich zwar geschworen, alle Lügen aufzudecken und nur noch die Wahrheit zu leben, doch das war gar nicht so einfach, denn nun erkannte er, dass fast alles in seinem früheren Leben eine Lüge gewesen war. Aber es ging ja auch weniger um die Abrechnung mit der Vergangenheit als um einen kompletten Neuanfang, und Alice schien das zu begreifen. Schließlich hatte auch sie Geheimnisse vor ihm gehabt – rätselhafte Umstände ihres Lebens in Jordanien, die sie nicht einmal sich selbst zur Gänze erklären konnte,

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