Der Mann, der niemals lebte
hörte Ferris das Wort »Raouf«, mehr verstand er nicht. Als der Mann schließlich zurückkam, wirkte er sichtlich erleichtert, und bald war auch klar, weshalb: Er würde seinen ungebetenen Gast schnell wieder loswerden. Er reichte Ferris einen Zettel, auf den er eine Adresse in der Altstadt geschrieben hatte.
»Wenn Sie ein Band von Raouf haben, müssen Sie zu Hassan gehen«, sagte er. »Nicht hierher. Dorthin.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Adresse und machte dann eine Handbewegung, als wolle er Ferris von seiner Tür verscheuchen.
»Ich gebe Ihnen auch eine Kopie«, sagte Ferris und legte die Kassette aus seiner Manteltasche auf den kleinen Tisch hinter der Tür. »Falls mir etwas zustoßen sollte und ich Hassan die Kassette nicht geben kann, müssen Sie sich das anschauen. Es ist sehr wichtig für alle Araber. Ein ganz besonderes Geschenk von Raouf.«
Der Bürochef wirkte nicht gerade glücklich darüber, dass Ferris ihm so ein besorgniserregend wichtiges Geschenk daließ, doch er versuchte nicht, es ihm zurückzugeben.
Die Adresse lag ausgerechnet in Bab Touma, dem Christenviertel der Altstadt. Vielleicht, dachte Ferris, war das wieder eine andere Form der taqiyya. Der Fahrer steuerte das Taxi zwischen wild hupenden Fahrzeugen hindurch die dicht befahrene Bagdadstraße entlang bis zur Abzweigung nach Bab Touma. Zentimeter um Zentimeter schoben sie sich durch eine schmale, verstopfte Straße am Fuß der alten Stadtmauer, bis sie an eine kopfsteingepflasterte Gasse kamen, die zu schmal für das Taxi war. Der Fahrer bedeutete Ferris mit einer Handbewegung, dass die angegebene Adresse irgendwo dort drinnen in den dunklen Seitenstraßen sein musste, wo nur Eselskarren hinkamen. Ferris sagte ihm, er solle warten, er sei in ein paar Minuten wieder da.
Dann stieg er aus und machte sich auf den Weg. Sein lädiertes Bein machte ihm wieder Schwierigkeiten, aber er zwang sich, nicht auf die Schmerzen zu achten. In der Gasse wimmelte es von Menschen, die dort ihre Einkäufe machten. Ein Metzger hackte unter freiem Himmel an einem rohen Stück Lamm herum, und zwei Türen weiter im Friseurladen blätterten zwei junge Männer, die auf ihren Haarschnitt warteten, in einem syrischen Männermagazin. Ein Pärchen stand vor einem Juweliergeschäft und suchte sich seine Eheringe aus, und von einer armenischen Schule am Ende der Gasse her kam eine Gruppe dunkeläugiger Kinder. Ferris hatte das Gefühl, als könne der anonyme Menschenfluss dieser arabischen Stadt ihn einfach aufnehmen und mit sich tragen, aber er wusste, dass dem nicht so war. Er stach hervor wie eine unschöne Narbe. In fast jedem Fenster konnte er Bilder eines grüblerisch dreinschauenden Jesus entdecken. Und immer war es ein dunkler, orientalischer Jesus, der wirklich zu wissen schien, was Leid bedeutete.
Langsam näherte er sich der Adresse, die auf dem Zettel stand. Es war ein kleiner Laden mit einer bunten Markise, in dem Musik- und Videokassetten verkauft wurden. In der Wohnung über dem Laden brannte schwaches Licht. Ferris blieb stehen, sah die Straße entlang und bemerkte, dass das geschäftige Treiben langsam weniger wurde. Die Menschen gingen zurück in ihre Häuser. Vielleicht spürten sie, was los war. Das war das Besondere an einem Ort wie Damaskus: Er hatte seine ganz eigene, geheime Sprache, und sobald etwas geschah oder ein Ereignis unmittelbar bevorstand, wussten in Windeseile alle Bescheid. Nur so konnten die Menschen hier überleben.
Ferris streckte den Kopf durch die Tür und schaute ins Treppenhaus. Es war dunkel, und er wollte gerade nach einem Lichtschalter tasten, als in einer Tür im Erdgeschoss eine Frau erschien.
»Wo wohnt Hassan?«, fragte Ferris.
Die Frau blickte kurz nach oben, bevor sie die Tür wieder schloss. Ferris stieg eine knarzende Treppe hinauf, deren Stufe ebenso wackelig waren wie das hölzerne Geländer. Auch oben war es dunkel, und Ferris fand keinen Lichtschalter. Er tastete mit der Handfläche an der Wand entlang, als plötzlich eine Tür aufging und ein bärtiger Mann ihn ansah. Aus der Wohnung hinter ihm fiel Licht auf den Flur hinaus.
»Sind Sie Hassan?«, fragte Ferris. »Ich habe etwas für Hassan.«
Der Bärtige gab keine Antwort und bedeutete Ferris, ihm in die schwach beleuchtete Wohnung zu folgen. Das gefiel Ferris überhaupt nicht, aber jetzt hatte er keine andere Wahl mehr. Es war so, wie es war. Er musste seine Videokassette abliefern. Wenn sie erst einmal in den richtigen Händen war,
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