Der Mann, der niemals lebte
Lenkrad und den Fuß auf dem Gaspedal. Ferris spürte ein scharfes Brennen an seinem linken Bein, was sich zunächst so anfühlte, als hätten ihn unzählige Wespen gestochen. Erst dann wurde ihm klar, dass auch er einen Granatsplitter abbekommen hatte. Er sah, dass sein linker Oberschenkel bis auf den Knochen aufgerissen war, und griff instinktiv mit der Hand nach unten, um sich davon zu überzeugen, dass seine Hoden noch da waren.
«Kannst du noch fahren?», brüllte er zu Bassam hinüber. Der Iraker hörte nicht auf zu schreien, aber irgendwie schaffte er es, den Mercedes an den Autos vorbeizusteuern, die wegen der Explosion vor ihnen angehalten hatten. Vor ihnen lag ein freies Stück Schnellstraße. «Kannst du noch fahren?», wiederholte Ferris, doch da geriet der Wagen auch schon ins Schleudern, und Bassam, dem der letzte Funke Leben aus den Augen gewichen war, sackte über dem Lenkrad zusammen.
Ferris riss seinen schlaffen Körper nach hinten, packte das Lenkrad und versuchte, den wild umherschlingernden Wagen zu stabilisieren. Weil es ihm nicht gelang, mit seinem verletzten linken Bein an Bassam vorbei aufs Gas zu treten, wurde der Mercedes immer langsamer. So werde ich also sterben, dachte Ferris. Er dachte an seine Mutter und an seinen toten Vater. An seine Frau dachte er nicht. Der Wagen rollte nur noch langsam, und die Verfolger holten rasch auf. Ferris hörte ein lautes Geräusch, aber er war schon so benebelt, dass er nicht mehr erkennen konnte, was es war. Das Geräusch wurde lauter, dann folgte ein scharfer Knall, als ob ein weiteres Geschoss explodierte, doch Ferris konnte nicht mehr klar denken. Das war’s, ging es ihm durch den Kopf. Ich hab’s hinter mir. Das war sein letzter Gedanke, bevor er in tiefer Schwärze versank: Ich hab’s hinter mir.
Das Geräusch, das Ferris gehört hatte, kam vom Rotor des Helikopters, den der diensthabende Offizier in Balad sofort nach seinem Anruf losgeschickt hatte. Der Kampfhubschrauber vom Typ Apache feuerte erst eine Rakete auf den gelben Chevy und dann noch eine auf den Wagen dahinter ab. Aus zwei weiteren Hubschraubern, die zu beiden Seiten der Schnellstraße gelandet waren, sprangen schwerbewaffnete Soldaten, die sofort einen Sperrkreis um den Mercedes bildeten. Sanitäter legten Ferris auf eine Trage und rannten mit ihm zu einem der Hubschrauber, aber als ihre Kameraden dasselbe mit Bassam tun wollten, erkannten sie, dass er tot war, und steckten ihn stattdessen in einen Leichensack. Kurze Zeit später war Ferris, den man im Hubschrauber so weit stabilisiert hatte, dass er sich nicht mehr in Lebensgefahr befand, wieder in Balad, und zwanzig Minuten nach der Explosion lag er dort bereits im Feldlazarett auf dem Operationstisch, wo die Ärzte alles dafür taten, sein linkes Bein zu retten.
Der erste Anruf, den Ferris nach dem Aufwachen aus der Narkose bekam, war von Hoffman, dessen Worte ihm seltsam vertraut vorkamen: Sie haben’s hinter sich. Es klang wie ein Abschluss, doch in Wahrheit war es nur der Anfang einer ganz neuen Geschichte.
Washington
Ferris hatte Glück: Sie flickten sein Bein wieder zusammen, brachten ihn aus dem Irak heraus und besorgten ihm ein Einzelzimmer im Walter-Reed-Militärkrankenhaus. Den meisten anderen Patienten auf der Station ging es noch viel schlechter als ihm: Sie hatten Arme oder Beine verloren, Teile des Gesichts, Teile des Schädels. Ferris schämte sich fast für sein Glück. Man hatte ihn in einer C-130 aus dem Irak ausgeflogen, zusammen mit den sterblichen Überresten eines einfachen Soldaten – jemand sagte, sein Name sei Morales –, der bei einem Granatwerferangriff auf einen vorgeschobenen Militärstützpunkt südlich von Bagdad ums Leben gekommen war. Das Behältnis, in dem das, was noch von ihm übrig war, transportiert wurde, war eigentlich kein richtiger Sarg, sondern eher eine Metallkiste, über die man immerhin eine amerikanische Flagge drapiert hatte. Die Leiche wurde in Kuwait mit militärischen Ehren empfangen, aber als die Zeremonie vorbei war, hoben zwei Soldaten der Ehrengarde die Metallkiste hoch und verluden sie auf ein Gefährt, das Ferris an den Kühlwagen eines Schlachthofs erinnerte. Die Ehrenformation trat weg, und der Kühlwagen fuhr davon.
Ferris war noch nicht lange wieder im Lande, da stattete ihm der CIA-Direktor höchstpersönlich einen Besuch im Krankenhaus ab. Er wirkte so elegant und durchtrieben wie ein venezianischer Doge. Ed Hoffman begleitete ihn. Mit seinem
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