Der Mann, der niemals lebte
misstraut, wenn sie Alice zu Gesicht bekommen hätten, aber das, hatte Ferris beschlossen, würde nie geschehen. Am besten gefiel ihm aber, dass Alice etwas Geheimnisvolles an sich hatte. Bei Christina war alles ganz klar und offensichtlich: ihr Verstand, ihre Schönheit, ihr Ehrgeiz. Alice ließ sich da nicht festlegen, was Ferris irgendwie arabisch vorkam. Unter ihrer scheinbaren Offenheit schlummerten verborgene Tiefen, und Ferris hatte den Eindruck, dass sie nicht alles sagte, was sie wusste.
Kurz bevor er nach Berlin geflogen war, hatte Alice ihm einen Brief geschrieben, im Grunde die Fortsetzung einer Diskussion, die sie bei ihrem letzten Treffen geführt hatten. Damals hatten sie eine Menge getrunken und über Politik geredet. Der Ton des Briefes war ernst und etwas flapsig zugleich. Ferris vermutete, dass das wohl Alices Art war, aber er kannte sie ja kaum. Er hatte den Brief noch immer in der Jackentasche, und jetzt, auf dem Balkon, zog er ihn wieder heraus und las ihn im schwachen Abendlicht ein weiteres Mal.
»Ich hasse diesen Krieg, Roger«, fing der Brief an. »Wann hat er überhaupt begonnen? Im Jahr 2001 oder zur Zeit der Kreuzzüge? Und wer sind die »Bösen«, von denen Deine Freunde in der Botschaft immer sprechen? Ich schätze mal, dass damit nicht alle Muslime gemeint sein können, aber selbst wenn es nur diejenigen unter ihnen sein sollten, die Amerika hassen, dann sind das immer noch sehr viele. Was sollen wir mit ihnen tun? Sie alle umbringen? Vielleicht bin ich dumm, aber ich begreife es nicht. Ich hoffe, dass wir irgendwann einmal wieder miteinander essen gehen, und danach könnten wir in diesen neuen Club in Schmeisani zum Tanzen gehen. Arbeite nicht zu viel. Ich vermisse Dich. Vermisst Du mich auch ein bisschen?«
Ihre Unterschrift war ein schwungvoller Tintenkringel unter dem Text.
Jetzt, als er auf dem Balkon saß und seinen zweiten Wodka trank, wurde Ferris klar, dass er Alice sogar sehr vermisste. Er versuchte, sie auf dem Handy anzurufen, aber sie ging nicht ran. War sie mit einem anderen Mann zusammen, oder reiste sie irgendwo herum?
Ferris wusste, dass auch er einen Brief schreiben musste. Nicht an Alice, die er vermutlich ohnehin bald wiedersehen würde, sondern an Christina. Sie befanden sich in einer unmöglichen Situation, das wussten sie beide, aber keiner wollte es vor dem anderen zugeben: Wenn sie mit ihm nach Amman gegangen wäre oder er den Auftrag abgelehnt hätte und in Washington geblieben wäre, hätten sie vielleicht noch eine Chance gehabt. Aber dazu hätten sie andere Menschen sein müssen, als sie es nun einmal waren. Genau betrachtet wollte Christina eigentlich gar nicht seine Frau sein, aber das hätte sie niemals zugegeben. Ihr gefiel die Vorstellung, mit einem CIA-Agenten verheiratet zu sein, der an vorderster Front im Einsatz gegen das Böse kämpfte. Irgendwie passte das zu ihrem Selbstbild als Verfechterin der Gerechtigkeit, auch wenn sie viel zu beschäftigt war, um überhaupt eine richtige Ehe zu führen.
Schreib den Brief jetzt gleich, sagte sich Ferris und ging in die Wohnung zurück. In seinem Arbeitszimmer setzte er sich an den Laptop und begann zu tippen: Meine liebe Christina ... nein ... Liebe Christina. Als ich im Juni aus Washington fortging, wollten wir miteinander reden, aber das haben wir nicht getan. Jetzt, glaube ich, müssen wir es tun. Unsere Ehe ist kaputt ... nein ... unsere Ehe steckt in einer schweren Krise. Das wissen wir beide. Wir haben uns monatelang nicht gesehen, und es sieht nicht so aus, als ob sich das in nächster Zeit ändern würde. Du möchtest deinen Job nicht aufgeben und ich den meinen auch nicht – erst recht nicht nach allem, was in letzter Zeit passiert ist. Es sieht ganz danach aus, als wäre für eine Ehe einfach nicht genügend Platz in unserem Leben. Wenn wir über so lange Zeit nicht zusammen sind, werden wir unweigerlich andere Menschen kennenlernen ... nein. Wenn wir nicht zusammen sein können, solltest du vielleicht mit einem Anwalt reden ...
Ferris hörte auf zu schreiben. Er dachte an Anwälte, den Kampf ums Geld, all den Ärger, den eine Scheidung mit sich brachte. Dann speicherte er das Dokument ab und schloss das Programm. Der Gedanke, mit Christina um irgendwelche Dinge zu feilschen, war ihm zuwider. Sie war gescheiter als er, und sie machte als Anwältin sehr viel mehr Geld, als er bei der CIA jemals verdienen konnte. In ein paar Jahren würde sie beim Justizministerium aufhören, bei einer
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