Der Mann, der niemals lebte
Gefangene alles aus, wovon er glaubte, dass seine Peiniger es hören wollten. Das aber machte sie nur noch wütender, weshalb sie ihn immer fester schlugen, bis er schließlich an zu hohem Blutverlust und schweren Schädelverletzungen starb. Ferris hatte dabei zugesehen.
»Hast du ihnen gesagt, sie sollen aufhören?«, fragte Christina.
»Nein. Ich dachte immer, es würde funktionieren. Aber dann war er plötzlich tot.«
»Erzähl das niemandem außer mir«, sagte Christina. »Streng genommen war dein Verhalten nämlich gesetzeswidrig.«
Als Ferris sie fragte, weshalb sie sich so sehr für Verhörmethoden interessierte, gab Christina ihm keine Antwort. Sie ging in ihr Zimmer und schrieb etwas auf, und als sie nach einer Weile zurückkam, waren die oberen Knöpfe ihrer Bluse geöffnet.
Das Gespräch hatte Ferris ziemlich mitgenommen, und er hätte gern geglaubt, dass es Christina genauso ging. Aber er war sich nicht sicher, denn im Lauf der Zeit war ihm klar geworden, dass sie begonnen hatte, Gesetzgebung als eine Art Kampf zu verstehen, bei dem es darum ging, für ihren Mandanten – den Präsidenten der Vereinigten Staaten – so viele Einschränkungen wie möglich abzubauen, damit dieser tun konnte, was er wollte. Irgendwie hatte das fast einen sexuellen Touch – wie das Gegenteil von Bondage-Spielen. Für Christina war die Rechtsprechung zum Handwerkszeug geworden, um Politiker von lästigen Fesseln zu befreien.
Als Ferris im Irak verwundet wurde, war sie mächtig stolz auf ihn. Er hatte eigentlich geglaubt, dass sie die Narben abstoßend finden würde, aber sie hatte sie immer wieder berührt, als ob sie dadurch seine Verwundung miterleben könnte. Aber das konnte sie nicht, denn als Ferris auf der irakischen Schnellstraße dem Tod ins Auge geblickt hatte, war sie ihm nicht einmal in den Sinn gekommen. Wie hätte er ihr das sagen sollen? Während seiner ganzen Genesungszeit hatte ihn dieses seltsame Gefühl der Ferne nicht verlassen, und dabei war ihm klar geworden, dass es Dinge gab, die er mit ihr nicht teilte und auch niemals teilen würde.
Ferris rief noch einmal auf Alices Handy an, und diesmal ging sie nach dem vierten Klingeln ran. Sie klang verschlafen. Offenbar hatte sie gedöst und schien im ersten Augenblick nicht zu wissen, wer Ferris war. Er gab sich Mühe, nicht allzu gekränkt zu klingen. Schließlich war sie nicht sein Eigentum.
»Ich habe versucht, dich anzurufen«, sagte er. »Wo warst du denn?«
»Meistens hier. Nur einen Tag war ich in Damaskus. Ich gehe nicht immer ran, wenn mein Handy klingelt.«
»Und was hast du in Damaskus gemacht?«
»Ich war einkaufen«, erwiderte sie knapp. »Ehrlich gesagt habe ich mich gefragt, wo du wohl abgeblieben bist. Ich dachte schon, du magst mich nicht.«
»Ich war unterwegs. Außer Landes.«
»Aha«, sagte sie skeptisch.
»Ich möchte dich sehen. So bald wie möglich. Hast du morgen Abend schon etwas vor?« Am nächsten Tag war Donnerstag, der erste Tag des Wochenendes in der islamischen Welt. Alice blieb eine Weile still.
»Ich weiß nicht...«, sagte sie schließlich.
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht, ob ich so lange warten kann«, sagte sie fröhlich und lachte darüber, dass sie ihn hereingelegt hatte.
Ferris legte das Telefon auf den Schreibtisch und ging wieder hinaus auf den Balkon. Die Nacht war angebrochen, ein kalter Wind wehte plötzlich von der Wüste herein. Amman war ein einziges Lichtermeer unter dem schwarzen Himmel. Ferris fühlte sich zwar nicht gerade blendend, aber doch längst nicht mehr so schlecht wie zuvor.
Amman
Ferris holte Alice Melville zu Hause ab. Sie wohnte in dem alten Viertel am römischen Amphitheater.
Ferris kannte keine anderen Amerikaner, die dort lebten. Alice trug ein ärmelloses Sommerkleid und Sandalen und hatte sich einen Pullover über die Schultern gelegt. Als sie näher kam,
schien ihr blondes Haar sie wie in Zeitlupe zu umschmeicheln.
Zur Begrüßung sagte sie: »Hey«, glitt auf den Beifahrersitz und stellte als Erstes einen anderen Radiosender ein. Mein Gott,
dachte Ferris, wie schön sie ist.
Er führte sie zum Abendessen in das italienische Restaurant des Hyatt aus, das war der romantischste Ort, der ihm einfiel.
Sie saßen draußen unter dem Sternenhimmel, ein Heizstrahler neben ihrem Tisch vertrieb mit seinen blau-gelben Flammen die abendliche Kühle. Ferris bestellte eine Flasche Wein, und als sie die geleert hatten, noch eine zweite. Der Wein machte Alice
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