Der Mann, der niemals lebte
hatten sie den Zweiten Weltkrieg schon fast verloren geben müssen. Doch als ihnen klar wurde, dass nichts Geringeres als ihr nacktes Überleben auf dem Spiel stand, hatten sie plötzlich einen neuen Charakterzug an sich entdeckt. Die ungeschickten Schachspieler und Salon-Exzentriker hatten sich als Killer entpuppt. Das war die Botschaft der historischen Geheimdienstberichte, die Ferris so gern las. Angesichts eines Feindes, den sie nicht direkt besiegen konnten, suchten die Briten nach anderen Möglichkeiten und erhoben Lüge und Täuschung zur Kriegskunst. Nachdem ihnen eine Enigma-Chifriermaschine des Feindes in die Hände gefallen war, zogen sie die gescheitesten und verrücktesten Köpfe des Landes heran, um die darin enthaltenen Codes zu knacken. Sie nahmen deutsche Agenten gefangen, drehten sie um und erschufen damit ein so fein gesponnenes und überzeugendes Netz aus Lügen, dass die Deutschen es für die Wirklichkeit hielten. Und weil sie wussten, dass sie ohne die Amerikaner als Verbündete unmöglich siegen konnten, starteten sie gleichzeitig ein geheimes Aktionsprogramm, das erlogene Gerüchte über isolationistisch gesinnte Kongressabgeordnete verbreitete. Dabei erhielten die Briten ihre Tarnung als liebenswert-aristokratische Stümper die ganze Zeit aufrecht, bis sie sich schließlich nach Berlin gestümpert hatten. Aber ihr Erfolg war hart erarbeitet, Tag für Tag, Lüge um Lüge.
Das schmale Bändchen, das Ferris mit auf die Reise genommen hatte, berichtete von einem ganz besonders waghalsigen britischen Täuschungsmanöver, und während er las, kam Ferris sein eigener Gegner in den Sinn. Er hatte kein Gesicht zu dem Namen »Süleyman«, und wenn er die Augen schloss und an ihn dachte, sah er nur undurchdringliches Schwarz. Aber dafür hörte er etwas: die Explosionen der Autobomben in Rotterdam, Mailand und Frankfurt. Bestimmt würden bald auch in Pittsburgh oder San Diego solche Bomben hochgehen. Nicht die CIA hatte bei dem Versuch versagt, Süleyman unschädlich zu machen, sondern Ferris selbst. Als er Anfang des Jahres Nizzaer im Irak rekrutiert hatte, war er auf eine der weitverzweigten Wurzeln des Netzwerks gestoßen, und als er mit Hani in Berlin war, hatte er bereits einen wichtigen Knotenpunkt berührt. Aber als Hoffman schließlich darauf bestanden hatte, einen eigenen Maulwurf einzuschleusen, hatte Ferris es nicht geschafft, das zu verhindern, und dann hatte er in seinem Frust auch noch versucht, den Gegner in Amman durch gezielte Provokationen aus seinem Versteck zu locken. Mit all diesen Aktionen hatten Hoffman und er letztlich nur eines erreicht: Sie hatten die wenigen Verbindungen gekappt, die sie überhaupt zu Süleymans Netzwerk hatten. Und unterdessen gingen immer neue Bomben hoch.
Sie mussten wieder bei null anfangen, und langsam rannte ihnen die Zeit davon. Die Frankfurter Bombe würde die Menschen in eine ganz neue Art von Panik versetzen, denn ein Anschlag mitten in der Finanzhauptstadt Europas war eine besonders unverfrorene Tat. Sie zeigte der Bevölkerung, dass sie es mit einem so schlau konstruierten und gut verborgenen Netzwerk zu tun hatte, das selbst die CIA und ihre Verbündeten nicht unschädlich machen konnten. Jetzt kann euch niemand mehr beschützen, das war die Botschaft dieser Autobomben: Ihr seid euren Feinden hilflos ausgeliefert.
Im schläfrigen Dämmerzustand auf dem langen Flug dachte Ferris immer wieder darüber nach, was Hani über die taqiyya gesagt hatte, die zulässige Notlüge. In den islamischen Texten, die er während des Studiums an der Columbia gelesen hatte, war der Begriff meistens im Zusammenhang mit den Schiiten aufgetaucht, deren Lehre Lügen gestattete, um sich aus einer Notlage oder Gefahr zu befreien. Dieses berechnende Verhalten war mit ein Grund dafür, dass die Sunniten sie als unverbesserliche Lügner betrachteten. Doch es gab noch eine tiefere Bedeutung der taqiyya, die direkt auf den Koran zurückging. Nach der Flucht Mohammeds nach Medina, der Hidschra, wurde Ammar bin-Jassir, einer seiner Gefährten, mitsamt seiner Familie in Mekka gefangen gesetzt. Bin-Jassirs Eltern wurden wegen ihres Bekenntnisses zum Islam gefoltert und getötet, während Bin-Jassir selbst vor den Ungläubigen behauptete, er würde ihre Götzen anbeten, und so nach Medina entkommen konnte, wo er wieder mit Mohammed zusammentraf. Als er den Propheten fragte, ob es richtig gewesen sei zu lügen, versicherte ihm Mohammed, er habe nur seine Pflicht erfüllt.
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