Der Mann, der niemals lebte
schon recht: Ihnen gingen die Ideen aus. Sie warteten eigentlich nur auf einen neuen Anschlag und hofften, danach jemanden zu fassen zu kriegen, den sie dann windelweich prügeln und ihm auf diese Weise vielleicht entlocken konnten, wo die nächste Bombe hochgehen sollte. Aber das war keine Strategie – das war schrittweise Kapitulation. Als Hoffman nach fünf Minuten immer noch schwieg, hatte Ferris plötzlich das Gefühl, sein Vorgesetzter könnte vielleicht auf einen Vorschlag von ihm warten. Er dachte noch einmal an die Idee, die ihm nach dem langen, trübseligen Flug von London nach Washington in den Kopf gekommen war. Er dachte an Hanis Ausdruck: taqiyya. Wenn man mit der Wahrheit nicht weiterkommt, muss man eben lügen. Und wenn man auf dem einen Spielfeld immer verliert, dann wechselt man eben auf ein neues.
»Ich hab da eine Idee«, sagte Ferris. »Kann aber sein, dass sie zu verrückt ist.«
»Wie bitte?«, fragte Hoffman verwundert. Er war es nicht gewöhnt, dass Ferris konkrete Einsatzvorschläge machte.
»Ich sagte, ich habe eine Idee. Ich bin auf dem Flug hierher darauf gekommen. Erst fand ich sie ein bisschen abwegig, aber vielleicht ist sie das ja gar nicht. Wollen Sie sie hören?«
»Na, klar doch. Was haben wir schon zu verlieren? Abgesehen von unserem ganzen gottverdammten Land.«
»Gut. Wir müssen an Süleyman herankommen, darüber sind wir uns doch einig, oder? Wenn wir das nicht schaffen, frisst er uns bei lebendigem Leib auf. Schauen wir uns doch nur um: Wir sind am Ende. Wir müssen wieder auf die Beine kommen. Stimmt’s?«
»Zweifellos. Und was ist das nun für eine Idee?«
»Es geht um etwas, das Hani vor meiner Abreise zu mir gesagt hat. Ganz am Ende, kurz bevor er mich rausgeworfen hat. Da hat er mir von der muslimischen taqiyya erzählt, einer Lüge, die man einsetzt, um zu bekommen, was man will. Und vorhin, auf dem Flug, dachte ich mir: Wieso nicht einfach lügen? Wieso Süleyman nicht einfach weismachen, dass wir es längst geschafft haben – dass sein Netzwerk längst von uns infiltriert ist? Uns ist klar, dass wir keinen Schritt weitergekommen sind, aber er weiß das nicht. Nach allem, was er weiß, könnten wir längst unter seinem Bett lauern und nur den richtigen Augenblick abwarten, um ihn fertigzumachen. Wir brauchen nur zu lügen und so zu tun, als hätten wir ihn an den Eiern. Dann wird er nervös, und das machen wir uns zunutze. Klingt das einleuchtend für Sie?«
»Vielleicht«, sagte Hoffman, »wenn ich wüsste, wovon Sie reden.«
»Ich rede von einem gigantischen Täuschungsmanöver. Es gibt nur eine Möglichkeit für uns, in Süleymans Netzwerk einzudringen, und das ist taqiyya. Alles andere haben wir schon versucht und nichts damit erreicht. Natürlich können wir es auch weiterhin auf die alte Art probieren. Unsere Leute können sich vor jeder salafistischen Moschee der Welt die Beine in den Bauch stehen und darauf warten, dass irgendwann irgendwo irgendwer den Köder schluckt. Vielleicht klappt das sogar, aber langsam läuft uns die Zeit weg. Und da wir es auf die Schnelle nicht mehr schaffen werden, einen echten Maulwurf zu rekrutieren, tun wir einfach so, als hätten wir schon einen. Wir schleusen einen virtuellen Maulwurf ein, verstehen Sie? Wir dringen nicht tatsächlich in das al-Qaida-Netzwerk ein, sondern tun nur so, als ob. Wo ist da der Unterschied? Wenn man schon keine guten Karten hat, kann man immer noch bluffen: Wir machen Süleyman einfach weis, wir hätten ihm einen Agenten in den Pelz gesetzt. Oder vielleicht behaupten wir auch, wir hätten Süleyman höchstpersönlich umgedreht oder sonst was Absurdes. Wir haben da völlig freie Hand. Wenn wir nur dreist genug sind, wird das schon klappen.«
Hoffman schüttelte den Kopf, lächelte aber wieder, und die düsteren Wolken hatten sich von seinem Gesicht verzogen. »Wissen Sie was, Roger? Ich glaube, ich muss meine Meinung über Sie noch einmal revidieren. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie so durchtrieben sein können. Da muss der alte Eddie Sie ja in eine ganz neue Schublade stecken.«
»Das ist die reine Verzweiflung«, sagte Ferris. »Bei Ihnen doch auch.«
»Das können Sie laut sagen. Aber jetzt erzählen Sie mir mal, wie Sie sich diese Nummer genau vorstellen. Mal angenommen, ich würde meinen Segen dazu geben.«
»Die Grundidee ist mir im Flugzeug gekommen. Ich habe gerade ein Buch über ein geniales Täuschungsmanöver der Briten im Zweiten Weltkrieg gelesen. Sie waren in einer
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