Der Mann, der niemals lebte
Gnade.
Hani öffnete eine Tür und wies Ferris einen Stuhl an. Vor ihnen befand sich eine große, nur in eine Richtung durchsichtige Glasscheibe, hinter der das von Neonröhren hell erleuchtete Verhörzimmer lag. Es hatte blau gestrichene Wände und war mit einem Tisch und zwei einfachen Stühlen möbliert. Das war es also: das »blaue Hotel«. Neben der Glasscheibe befand sich ein kleiner Lautsprecher, durch den Ferris hören konnte, was im anderen Raum gesprochen wurde. »Was für ein Glück, dass Sie Arabisch verstehen«, sagte Hani. »Ich glaube nicht, dass sich das leicht übersetzen ließe.«
Er ließ Ferris allein und ging in das Verhörzimmer, wo er einen der beiden Stühle etwa zehn Meter von dem anderen entfernt mit der Lehne an die Wand stellte. Kurze Zeit später wurde eine weitere Tür geöffnet, und zwei Wachen brachten den Gefangenen herein. Er war unrasiert und wirkte übernächtigt, schien aber körperlich unversehrt zu sein. Die Wachen setzten ihn auf den freien Stuhl und fesselten ihn mit Händen und Füßen an den Metallrahmen. Dann verließen sie den Raum. Der Gefangene sah Hani fast Hilfe suchend an.
Ferris wartete darauf, dass Hani etwas sagte, doch der Jordanier blieb still.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte der Gefangene, und als er es gleich noch einmal wiederholte, klang es fast wie ein Jammern. Hani sagte noch immer nichts.
Mehrere Minuten vergingen. Der Gefangene starrte Hani gequält an. Tränen rannen ihm über die Wangen, er unterdrückte ein Schluchzen. »Was wollen Sie?«, winselte er.
Nun endlich antwortete Hani.
»Sag mir, warum du Mustafa Karami umgebracht hast, Ziyad.« Seine Stimme klang leise. Aus dem Korridor gellten ununterbrochen Schreie in den Raum.
»Weil er ein Verräter war«, antwortete der Gefangene. »Weil er ein Verräter war. Weil er ein Verräter war.«
Hani erwiderte nichts, und die Stille in dem Raum war wie der Druck auf den Schädel eines Tauchers, der sich zu tief unter Wasser befindet. Nach zehn Minuten war Ziyad so verzweifelt, dass er weitersprach.
»Bitte. Das ist die Wahrheit. Mustafa Karami war ein Verräter.«
»Aber Ziyad, woher weißt du denn, dass Mustafa ein Verräter war?« Hanis Frage klang fast wie eine Neckerei.
»Sie wollen mich reinlegen. Sie wissen es doch schon längst.«
»Ich will dich nicht reinlegen. Erzähl es mir.«
»Weil er für die Amerikaner gearbeitet hat. Er war ein Verräter, der für die Amerikaner gearbeitet hat.«
Hani ließ die Worte auf sich wirken. »Und wie konntest du dir da sicher sein?« Seine Stimme verfolgte ihn wie ein Albtraum.
»Sie kennen die Antwort! Sie kennen sie doch! Sie kennen sie!«
»Natürlich kenne ich sie, aber ich möchte sie von dir hören. Du bist ein wichtiger Mann, und ich muss die Antwort von jemandem hören, den ich respektiere. Von einem Mann wie dir.«
»Danke, sidi. Wir waren uns sicher, dass er ein Verräter ist, weil er mit einem ihrer Agenten in Kontakt war. Er heißt Hussein Amary und arbeitet in Indonesien für die Amerikaner. Daher wussten wir, dass Karami ebenfalls für die Amerikaner gearbeitet hat.«
»Für die Amerikaner!« Hanis Augen waren ganz hart und klein vor Zorn. »Aber wie seid ihr darauf gekommen?«
»Weil Karami Amary kontaktiert hat. Zuerst war es andersrum. Amary hat Karami angerufen. Karami hat uns sogar noch nach ihm gefragt. Wer ist dieser Hussein Amary? Warum ruft er mich an? Aber dann, einige Zeit später, haben wir erfahren, dass Karami sich selbst an Amary gewandt hat. Er wollte Amary helfen, nach Europa zu reisen und sich mit einigen von uns zu treffen. Er hat nach einem Mann namens Süleyman gefragt. Da wussten wir, dass Sie und die Amerikaner Karami in unser Netzwerk einschleusen wollten. Das war Ihr Trick: Sie wollten Karami benutzen, um jemanden in unsere geheimsten Kreise zu bringen. Da konnten wir ihm nicht mehr vertrauen. Er arbeitete für die Amerikaner. Und für Sie.«
Hani starrte den Gefangenen an. Ferris sah, wie angespannt sein Gesicht war, wie sehr er um Fassung rang.
»Warum habt ihr Amary denn nicht getötet?«, fragte er.
»Das wollten wir ja, aber wir konnten ihn nicht finden. Er ist verschwunden. Die Amerikaner waren schlau. Sie haben ihn versteckt. Sie sind sehr schlau, die Amerikaner, aber sie sind des Teufels, und Gott wird sie bestrafen.«
Hani schaute durch die verspiegelte Scheibe direkt zu Ferris hin. »Ja«, sagte er leise. »Die Amerikaner sind sehr schlau.« Er stand auf und ging aus dem Raum. In seinen
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