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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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verkaufte und Fahrplanänderungen ankündigte. Jetzt war er der stolze Aufseher über ein dreistöckiges Backsteingebäude mit zahlreichen Giebelchen, mit einem Turm, an dem es eine große Uhr gab, und mit einem geräumigen holzgetäfelten Wartesaal unter einem zentralen Oberlicht. Für St. Petersburger Verhältnisse war das Gebäude viel zu groß, aber die St. Louis & St. Petersburg Railway schien für eine rosige Zukunft zu planen, und in den oberen Stockwerken waren die Handwerker noch dabei, einige Gästezimmer auszubauen.
    Tom stand von den glänzenden Marmorfliesen auf und gab dem etwas steif wirkenden Stationsvorsteher ebenfalls die Hand. »Danke, Sir.«
    Hayward nickte säuerlich, und nach einem abschätzigen Blick auf Toms abgerissenes Äußeres meinte er mit gezwungenem Lächeln: »Keine Ursache. Dem Chronicle ist die St. Louis & St. Petersburg Railway stets gerne behilflich. Ich habe den Mann hier, Isaac ist sein Name. Er kann Sie begleiten.«
    Hayward wies mit dem Kinn über die Schulter. Durch das Fenster neben der Tür zur Bahnplattform konnte man einen älteren Schwarzen in einer Latzhose erkennen, der sich unsicher umblickte und sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken wischte.
    »Vielen Dank«, sagte Becky nochmals, »das ist sehr freundlich von Ihnen. Wir wollen auch keine weiteren Umstände machen.«
    Hayward nickte würdevoll, dann blickte er kurz zu den wenigen Reisegästen, die im Wartesaal saßen, und senkte die Stimme. »Ich würde Sie jedoch ersuchen, diesen unangenehmen … Vorfall dort zu belassen, wo er stattgefunden hat. Nämlich in den Schweinepferchen von Mr Ripleys Grundstück. Dass die Bahnlinie daran angrenzt, ist ja mehr oder minder nur Zufall, und Sie wissen ja, dass es immer noch Menschen in dieser Stadt und anderswo gibt … rückständige Menschen, will ich betonen, die der Eisenbahn mit Argwohn oder gar Ablehnung begegnen, weil sie uns wahlweise für den Niedergang der Dampfschifffahrt verantwortlich machen wollen oder die Reisegeschwindigkeit unserer Züge als abträglich für den Körper befinden. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    Becky setzte ein verbindliches Lächeln auf und nickte. »Sicher, Mr Hayward, es ist nur … von dem Grundstück der St. Louis und St. Petersburg Railway aus kann man sich dem Pferch unbemerkt nähern. Wohingegen man, wenn man von der Seite von Mr Ripleys Grundstück herkommt, zuerst an zahlreichen Wirtschaftsgebäuden, Ställen, den Unterkünften der Arbeiter und dem Wohnhaus der Ripleys vorbeimuss, wie mein Kollege Mr Sawyer so treffend festgestellt hat. Nur deswegen belästigen wir Sie. Sollten wir also feststellen, dass der unglückliche Mr Teller auf diesem Weg in den Schweinepferch gelangt ist, werden meine Leser das bestimmt wissen wollen …«
    Mr Teller? Tom bemerkte, dass er Jebs Nachnamen bis jetzt nicht gekannt hatte.
    Hayward lief rot an. Er sog zischend Luft in die Backen, und Becky beeilte sich hinzuzufügen: »Wenngleich wir vom Chronicle uns unserer Verantwortung auch und gerade für die Eisenbahn in St. Petersburg stets bewusst sind, und ich kann Ihnen versichern, dass niemand Ihnen wegen meines Artikels Vorwürfe machen wird.«
    Hayward blies die Luft langsam wieder aus, und seine Gesichtsfarbe wurde aschgrau, so wie zu Beginn ihres Gesprächs. »Vielen Dank, Miss Rebecca. Ich weiß ja, dass man sich auf die Thatchers in puncto Fortschritt in St. Petersburg verlassen kann. Grüßen Sie Ihren Herrn Vater recht herzlich von mir.«
    Becky schien von Haywards Worten nicht besonders angetan zu sein. Sie nickte knapp, und Hayward zog eine Elgin-Taschenuhr an einer goldenen Kette aus seiner Westentasche hervor und warf einen Blick darauf. »Sie werden mich entschuldigen, ich muss noch einen unserer Ingenieure treffen.«
    Mit einer knappen Verbeugung empfahl sich Hayward und hielt ihnen die breite Flügeltür zur Plattform auf.
    Die Worte des Stationsvorstehers klangen noch eine Weile in Tom nach, als er und Becky Isaac über das Gleisbett folgten. Links von ihnen ragte grau und düster das Rundhaus auf, der kreisrunde Lokschuppen, über dessen Drehscheibe die Lokomotiven auf die Abstellgleise verteilt wurden. Hollis humpelte neben Tom her, und diesem war klar, dass sie ein reichlich groteskes Bild abgeben mussten: Herr und Hund, beide hinkend, denn auch Tom zog den linken Fuß nach und bemühte sich, mit Becky und Isaac Schritt zu halten.
    »Die Mistdingers sin’ aus Kiefernholz un’ nich’ aus Eiche.

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