Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
ihnen.
Tom bemerkte, dass sie seltsam gepflegt aussahen. Jim hatte ein sauberes Hemd an, das verdächtig nach Sonntag und Gottesdienst aussah, und wenn er sich nicht täuschte, dann hatte Billy Fisher sich rasiert.
»Was ist los, Joe? Geht ihr drei Hübschen heute zur Beichte? Da wird der Pfarrer aber rote Ohren bekommen.«
Joe Harpers Grinsen blieb wie festgezurrt in seinem Gesicht. Er schüttelte den Kopf.
Tom blickte zum Anleger. Der Mann im Anzug stieg aus dem Ruderboot und hievte sein Messingstativ auf die Planken.
»Nicht ich gehe heute zur Beichte, Tom. Du wirst gehen.«
Tom wandte sich um und entdeckte drei weitere Männer hinter Harper. Zwei junge Soldaten im Range eines First Lieutenant, die Koffer trugen, flankierten einen Major.
Der Mann war groß und massig, er trug eine kleine Nickelbrille unter buschigen schwarzen Augenbrauen, aber sonst schien der Mann keine Haare zu haben. Unter seinem Arm klemmte eine Ledermappe, die beinahe zwischen seinem ausladenden Bauch und den kräftigen Armen verschwand.
Harper schwang die Hand nach hinten, als wäre er Madame Pauline, die eine ihrer unvergleichlichen Nummern ankündigte, und der Major trat nach vorn.
»Tom Sawyer?«, fragte er, und Tom schluckte, weil er wusste, was nun kommen würde.
Er nickte. »Ja, Sir.«
»Major Amos T. Crittenden vom Marineministerium und Sonderermittler für Minister Welles. Ich möchte mit Ihnen über Ihre Rolle bei der Ermordung von Präsident Lincoln sprechen.«
~~~
Das Geräusch trieb ihn in den Wahnsinn.
Der Silberlöffel kreiste seit Minuten in der Tasse Tee, die sich Crittenden hatte bringen lassen. Auf einem kleinen zerkratzten Tablett hatte Pfarrer Sprague ihm einen Zuckerkegel gebracht, und der Major hatte ihn mit einer Zange zerkleinert und so viele Stückchen in seine Tasse geworfen, dass der Tee fast über den Tassenrand schwappte. Dann nahm er den Löffel und rührte um. Langsam und vorsichtig, damit die Tasse nicht überlief. Das helle hauchende Kratzen war das einzige Geräusch in der ansonsten stillen Kirche von St. Petersburg.
Tom hatte keine Ahnung, warum der Major darauf verfallen war, ihn in der Kirche zu verhören. Dass es ein Verhör werden würde, bezweifelte er nicht. Reverend Sprague, der weißhaarige, gebeugte Pfarrer, aus dessen Ohren graue Haare wuchsen, hatte kurz gestutzt, als Harper vor wenigen Minuten mit Crittenden, den beiden Lieutenants und Tom im Schlepptau zu ihm gekommen war und Crittendens Ansinnen vorgebracht hatte. Dann hatte er mit den Schultern gezuckt, »warum nicht« genuschelt und die Türen seiner Kirche geöffnet. Auf Spragues strafenden Blick hin hatte Tom den Hund draußen angeleint.
Als er unter der Galerie hindurch in die Kirche trat, hatte Tom einen Schritt in seine Vergangenheit gemacht. Unzählige Stunden hatte er hier abgesessen, zu Tode gelangweilt oder auch mit nagend schlechtem Gewissen, wenn Pfarrer Sprague donnernd über die Sünde predigte. Oder aber sich glänzend unterhalten, wenn es ihm gelungen war, einen Kneifkäfer in die Sonntagsgemeinde zu schmuggeln, der den Gottesdienst aufmischte, bis die Leute fast erstickten vor unterdrücktem Lachen.
Ein Dutzend dunkler Bankreihen bildeten eine Gasse zum Altar, der nur ein einfacher, weiß gestrichener Tisch aus groben Brettern war. Ein nacktes Holzkreuz an der Wand dahinter war der einzige Schmuck in dem ansonsten schlichten Raum mit der weiß getünchten Decke und den ebenso weißen Bretterwänden. Mit den zahlreichen Fenstern an den Seiten und im Altarraum, durch den die Nachmittagssonne schräg hereinflutete, hatte der Raum etwas sehr Helles und Freundliches. Doch das viele Licht spendete Tom keinen Trost. Düster und benommen schleppte er sich nach vorn und verfluchte die Ankunft des Sonderermittlers, der genau in dem Moment gekommen war, als er in Pollys Gärtchen auf den schwachen Hauch einer Spur gestoßen war.
Crittenden hatte Harper zu dessen großer Enttäuschung weggeschickt und einen der Lieutenants an der Tür zur Sakristei, den anderen am Kirchportal postiert. Dann hatte er sich, ohne ein weiteres Wort an Tom zu richten, in die erste Bankreihe gekniet und gebetet, während Tom danebenstand und nicht so recht wusste, was er tun sollte. Schließlich hatte Crittenden Tom gebeten, neben ihm Platz zu nehmen. Die Bänke waren eng, und Crittenden hatte sichtlich Mühe, seinen massigen Körper auf der schmalen Sitzfläche unterzubringen.
Er hatte seine Ledermappe geöffnet, zwei Etuis, eine graue
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