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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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Obwohl ich in der Nacht davor kein Auge zugetan habe, weil der Präsident entschieden hatte, einen Spaziergang durch das nächtliche Washington zu machen und es wieder niemand von der Metropolitan Police gab, der da war, um ihn zu begleiten, nur mich! Mich und niemanden sonst!«
    Tom keuchte, er hatte die Beherrschung verloren, und er ärgerte sich maßlos über sich selbst, weil es Crittenden nach nur wenigen Minuten gelungen war, ihn genau dorthin zu bringen, wo er nie wieder hatte sein wollen: an den Abgrund seiner Schuld. Er beugte sich dicht zu Crittenden hinunter, dass dessen Brille beschlug.
    Der Major wich ein wenig zurück.
    »Ich hätte wach sein und es verhindern müssen«, sagte Tom ganz ruhig. »Ich hätte in der Loge des Präsidenten sein müssen, ich hätte Booth erschießen sollen, bevor er den Präsidenten erschießen konnte. Und ich hätte bereitwillig mein Leben für den Präsidenten gegeben, so wie ich es bei meiner Vereidigung geschworen habe. Für niemanden hätte ich es lieber gegeben, weil ich diesen weisen, starken und herzensguten Mann verehrt habe, wie ich noch nie jemanden verehrt habe, Major Crittenden. Aber das ist alles unerheblich, stimmt’s? Präsident Johnson ist in Schwierigkeiten, und Sie wollen von ihm ablenken. Es geht Ihnen darum, einen Sündenbock zu finden, und da sind Sie auf den schlafenden Tom Sawyer gestoßen. Und Sie haben natürlich recht: Es war meine Schuld. Ich hätte nicht schlafen dürfen.«
    Tom atmete tief ein. Er straffte sich. »Wenn Sie mir deswegen in Washington den Prozess machen müssen, dann tun Sie das, aber ersparen Sie uns beiden dieses jämmerliche Theater hier.«
    Tom machte eine ausladende Geste mit den Armen, die ihn und Crittenden, die Lieutenants und die ganze Kirche einzuschließen schien. Dann ließ er erschöpft die Arme sinken.
    Crittenden sagte nichts. Er blickte Tom verblüfft an, und nach einer kleinen Ewigkeit, wie es Tom vorkam, fing er meckernd an zu lachen.
    Tom schüttelte verwirrt den Kopf.
    Crittendens lautes Lachen brach sich an der Kirchendecke und hallte durch den Raum. Sein Doppelkinn wabbelte, und er hielt sich den Bauch.
    Tom blickte fragend zu einem der Lieutenants, doch der steckte nur wortlos seine Waffe ein und bezog wieder Posten.
    Der Major beruhigte sich langsam, nahm schließlich die Brille ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, immer noch leicht bebend. »Verzeihen Sie mir, bitte verzeihen Sie!«
    Dann verebbte das Lachen. Crittenden setzte die Brille auf, räusperte sich und blickte Tom schließlich streng an.
    »Sie liegen vollkommen falsch, Mr Sawyer. Ich untersuche den Tod des Präsidenten nicht, um Ihnen als ›Sündenbock den Prozess zu machen‹, wie Sie es ausdrücken …« Der Major stand auf, beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Präsident Johnson hat mich hergeschickt, weil wir glauben, dass Kriegsminister Stanton Präsident Lincoln hat ermorden lassen. Und mit Ihrer Hilfe können wir das vielleicht beweisen.«
    ~~~
    Tom starrte den Sonderermittler mit offenem Mund an und ließ sich kraftlos auf eine Bank sinken.
    »Wie bitte?«, flüsterte er.
    Die Tür zur Sakristei öffnete sich quietschend. Pfarrer Sprague spähte herein, offensichtlich aufgeschreckt durch das Gebrüll und das Gelächter in seiner Kirche, und sah sich aufgebracht um, bis er bemerkte, dass Crittenden ihm winkte.
    »Alles in Ordnung, Hochwürden. Wir unterhalten uns nur angeregt!«, rief er lächelnd dem steinalten Geistlichen zu, und der Lieutenant an der Tür geleitete den beunruhigten Priester wieder hinaus.
    Crittenden stand auf, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schlenderte zum Altar. »Sie hatten recht mit Ihrer Feststellung, dass Präsident Johnson in Schwierigkeiten steckt, Mr Sawyer. Es geht jedoch nicht um seinen zu nachsichtigen Umgang mit dem Süden, wie es ihm die radikalen Republikaner vorwerfen, wobei er damit im Übrigen lediglich Präsident Lincolns versöhnliche Haltung fortführt. Die Schwierigkeiten, in denen der Präsident steckt, sind ganz anderer Natur. Es hängt damit zusammen, dass in diesem Fall die Opposition in Gestalt des Kriegsministers in seinem eigenen Kabinett sitzt. Und es hängt damit zusammen, dass sich die Hinweise mehren, dass eben jener Kriegsminister der Kopf der Verschwörung zur Ermordung von Präsident Lincoln war.«
    Tom bemerkte, dass ihm der Mund immer noch offen stand, und er schnappte nach Luft, bevor er sprach. »Minister

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