Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Mappe und einen Bogen Papier herausgenommen und sich dann um den Tee gekümmert. Ausführlich. Geradezu aufopfernd.
Was zur Hölle machte er da?
Crittenden rührte den Zucker um, als gälte es, Kieselsteine aufzulösen. Endlich nahm er die Tasse mit ruhiger Hand, führte sie langsam zum Mund, während er die andere Hand unter die Tasse hielt, falls sie tropfte. Er setzte die Tasse an die Lippen, trank sie in einem Zug leer und setzte sie wieder ab. Dicke Schmeißfliegen flogen immer wieder brummend gegen die Fensterscheiben.
Tom stöhnte innerlich auf. Machte der Major das alles mit Absicht so langsam?
Crittenden setzte seine Nickelbrille ab, putzte sie mit einem Seidentüchlein aus einer kleinen Tasche seiner tadellos gepflegten Uniformjacke, hielt sie prüfend gegen das Licht und setzte sie wieder auf. Dann öffnete er die Mappe und vertiefte sich in ein Dokument, als wäre Tom gar nicht da.
Tom seufzte. Was sollte dieses Schauspiel? Wollte Crittenden ihn zermürben, bevor die eigentliche Befragung überhaupt losging? Wo war inzwischen wohl der Mann in dem Ruderboot? Wie ging es Huck, und wann würde er endlich mit Sid sprechen können? Crittenden brachte ihn zur Raserei, bevor er überhaupt ein Wort gesagt hatte, und schließlich hielt es Tom nicht mehr in der Bank. Er stand auf, ging um die Sitzreihe herum, stützte die Hände auf die Banklehne genau vor Crittenden und bellte ihn an: »Ich habe geschlafen, wenn es das ist, was Sie wissen wollen!«
Crittenden blickte überrascht auf und blinzelte hinter seinen Brillengläsern hervor. »Ich bitte um Verzeihung?«
»Ich habe geschlafen. Als auf Präsident Lincoln geschossen wurde. Das ist es doch, warum Sie hier sind, oder nicht?«
Crittenden wechselte einen kurzen Blick mit dem Lieutenant, der an der Sakristeitür postiert war. Der Mann hatte sich von seinem Platz in Toms Richtung bewegt und zu dem Armycolt an seinem Gürtel gegriffen, als Tom laut wurde. Crittenden schüttelte den Kopf, und der Lieutenant bezog wieder seinen Posten.
Crittenden richtete den Blick auf Tom, lächelte dünn und meinte ruhig: »Geschlafen. Ja, das weiß ich. Bitte setzen Sie sich doch wieder.« Er wies neben sich auf die Bank und vertiefte sich wieder in das Studium seines Dokuments.
Tom, unschlüssig, was er von Crittendens Antwort halten sollte, nahm tatsächlich wieder Platz. Der Major schien das Theaterstück in voller Länge aufführen zu wollen und hatte nicht vor, gleich in den letzten Akt zu springen.
Er schloss die Mappe und schob sie auf seine Knie, dann legte er einen Bogen Papier darauf. Aus dem Etui nahm er daraufhin eine Schreibfeder und ein Tintenfass, das er vorsichtig auf die breite Lehne der Bankreihe vor sich stellte, tauchte die Schreibfeder ein und wandte sich dann an Tom. »Ich bin hier, um mit Ihnen über die Umstände der Ermordung von Präsident Lincoln zu sprechen, Mr Sawyer.«
»Ob Sie’s glauben oder nicht, darauf bin ich auch schon gekommen, Major. Und wie ich bereits sagte, ich habe geschlafen, als –«
»Ja, ja. Schon gut«, unterbrach ihn Crittenden. »Eins nach dem anderen. Erzählen Sie mir zunächst bitte, wie Sie in den Dienst des Präsidenten kamen.«
Tom blies geräuschvoll die Luft aus den Backen und wiederholte die gleiche Geschichte, die er am Morgen Becky erzählt hatte.
Crittenden nickte und legte den Kopf ein wenig schräg. »Sie sind also nicht von Pinkertons Nachfolger Lafayette Baker für den Dienst bei Präsident Lincoln ausgewählt worden?«
»Nein, Sir, wie ich schon sagte, habe ich diese Ehre Allan Pinkerton zu verdanken und danach dem Präsidenten selbst, der mich in seinem Dienst behalten wollte, auch nachdem Pinkerton von seinen Pflichten entbunden wurde.«
Crittenden machte sich eine Notiz auf dem Blatt Papier. »Gut. Sie haben sich nach der Flucht von John Wilkes Booth an dessen Ergreifung beteiligt. Ich habe erfahren, dass Sie am 26 . April dabei waren, als man den Mörder in der Scheune bei Bowling Green umzingelt hatte. Können Sie mir schildern, wie es zu den tödlichen Schüssen auf Booth kam?«
Tom runzelte die Stirn. Warum fragte Crittenden nach der Nacht zwei Wochen nach der Ermordung und blieb nicht bei dem Abend im Ford’s Theatre? Er räusperte sich. »Ich … war in der Scheune, weil ich nicht wollte, dass Booth verbrannte oder dass er einen verzweifelten, theatralischen Ausbruch oder so etwas versuchte, woraufhin die Männer von Colonel Conger, der die Verfolgung von Booth befehligte, ihn
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