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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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sicherlich erschossen hätten.«
    Crittenden lächelte. »Ja. Aber wie kam es dann zu den Schüssen?«
    »Ich … bin in die Scheune gegangen, alles stand bereits in Flammen. Ich fand Booth und überzeugte ihn, aufzugeben. Er war schon dabei, sich die Handschellen anzulegen, als Sergeant Boston Corbett seinen Gewehrlauf durch einen Spalt zwischen den Scheunenbrettern steckte und Booth erschoss. Ich hätte den Mann umbringen können.«
    »Wen? Booth?«
    »Nein. Corbett. Eine schnelle Kugel war zu einfach für Booth.«
    Crittenden verzog keine Mine und machte sich wieder Notizen. »Sind Sie mit Kriegsminister Stanton bekannt, Mr Sawyer?«
    Tom stutzte. Er schüttelte den Kopf. »Sie meinen, ob wir uns manchmal auf einen Scotch und eine Partie Whist treffen und darüber reden, wie die Tabakernte auf unseren Ländereien dieses Jahr wohl ausfällt?«
    Crittenden blickte auf. Seine Augen waren eisblau und kalt. Er lächelte nicht. »Ja. So etwas in der Art.«
    Tom schnaubte. »Nein, Major. Ich bin mit dem Kriegsminister nicht bekannt. Ich bin ein Junge aus St. Petersburg, der zufällig beim Präsidenten gelandet ist, weil er irgendwann einmal schneller gelaufen ist als ein Eisenbahnräuber. Ich habe Präsident Lincoln nur zu Sitzungen und zu Gesprächen mit Minister Stanton begleitet. Im Weißen Haus, bei Kabinettssitzungen, in Stantons Haus oder wo immer die beiden Herren sich unterhalten wollten. Dann habe ich es so gemacht wie ihre beiden Lieutenants hier: Ich habe mich an eine Tür gestellt, aufgepasst, dass niemand mit gezückter Waffe durch die Tür kommt, und dabei tunlichst das Maul gehalten.«
    Crittenden blickte Tom lange schweigend an und nickte. Schließlich machte er sich wieder Notizen. Ohne von seinem Blatt aufzublicken, sagte er: »Warum haben Sie Washington verlassen und sind nach St. Petersburg gefahren, Mr Sawyer? Man hat mir erzählt, Ihnen wurde eine Position als Personenschützer bei Präsident Johnson angeboten?«
    Tom wusste nicht, worauf Crittenden hinauswollte. Ging es darum, dass er sich verhalten hatte wie jemand, der vor einer Schuld davonlief? Was sollten diese albernen Fragen? Tom spürte, wie ihm die Wut langsam wieder den Nacken heraufkroch. Er biss die Zähne aufeinander und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin hierhergekommen, weil mein Bruder heiratet, Major. Oder zumindest heiraten wollte, bis meine Tante vergangene Woche ermordet wurde, falls Sie es genau wissen wollen.«
    Jetzt blickte Crittenden doch von seinem Blatt auf. »Oh. Das tut mir sehr leid, Mr Sawyer. Seien Sie bitte meines Beileides versichert. Sie haben am fraglichen Abend im Ford’s Theatre geschlafen, als der Schuss auf Präsident Lincoln fiel, sagten Sie vorhin. Warum haben Sie geschlafen?«
    Tom blinzelte. Der Kerl machte ihn wahnsinnig. Crittendens Fragen folgten keinerlei System, er sprang munter zwischen den Ereignissen hin und her. Wenn Crittenden dieses Schauspiel weiter aufführen würde, nur um Tom am Ende mit einem Paukenschlag festzunehmen und nach Washington zu bringen und ihm den Prozess zu machen, würde er Pollys Mörder niemals finden. Er würde Becky wahrscheinlich nie wiedersehen. Tom beschloss, sich dumm zu stellen und sich nicht provozieren zu lassen. »Weil ich müde war.«
    Crittendens Augen weiteten sich. »Oh, Sie waren müde, ich verstehe. Dann sei Ihnen Ihr Schlaf natürlich gegönnt. Ihre Aufgabe war es ja nur, auf den mächtigsten Mann dieser Nation aufzupassen und ihn notfalls mit Ihrem Leben zu verteidigen, wie Sie es bei Ihrer Vereidigung geschworen hatten. Wer kann da schon erwarten, dass Sie wach bleiben, Mr Sawyer? Also ich habe da volles Verständnis und würde Ihnen nie –«
    »Ja, es war meine Schuld, Sie aufgeblasener Fettsack!« Tom fegte die Mappe mit dem Blatt von Crittendens Knien und sprang auf.
    Die beiden Lieutenants setzten sich sofort in Bewegung, zückten den Revolver, doch Crittenden hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Wortlos sammelte der Major seine Mappe und das Papier vom Boden auf und blickte dann lächelnd zu Tom. »Sie geben also zu, dass es Ihre Schuld war?«
    Tom schrie ihn an und es war ihm völlig gleichgültig, dass die Lieutenants mit gezückter Waffe näher kamen. »Ja, verdammt! Ich hätte da sein müssen! Und das, obwohl es gar nicht meine Schicht war! Obwohl Parker von der Metropolitan Police schon seit drei Stunden beim Präsidenten hätte sein müssen, aber der hat sich lieber nebenan in den ›Star Saloon‹ gehockt und sich betrunken!

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