Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
das, Sid? Was soll das beweisen?«
Sid reichte ihm das zweite Dokument. Wieder ein Kaufvertrag. Das Papier war leicht zerknittert. Die Eisenbahngesellschaft hatte 600 Dollar für den Kauf von Pollys Grundstück geboten.
»Das war im Februar«, sagte Sid. »Schau mal ganz unten, wo der Strich ist.«
Tom ließ die Augen über das Papier gleiten. Da war Pollys Unterschrift. Die lang gezogenen, spinnengleichen Buchstaben, unverkennbar ihre Handschrift. »Sie hat den Garten für 600 Dollar verkauft?«
»Nein.« Sid schüttelte den Kopf, und sein leichtes Doppelkinn wabbelte. »Sie wollte verkaufen, und ich hab sie gerade noch erwischt, bevor sie damit zur Post ist. Ich habe ihr das Ding aus der Hand gerissen und auf sie eingeredet wie auf einen lahmen Gaul, damit sie es nicht tut.«
»Damit sie es nicht tut? Ich dachte, genau das wolltet ihr! Du und Thatcher und Harper! Warum sollte sie es nicht tun?«
Sid seufzte. »Damit sie einen besseren Preis bekommt, Tom. Das Grundstück war viel mehr wert, nachdem Joe, Thatcher und ich der Eisenbahngesellschaft die anderen Gartengrundstücke verkauft hatten.« Er tippte auf den Kaufvertrag mit den 1 . 200 Dollar. »Und noch mehr, als wir ihnen das Land auf der Illinois-Seite für einen lächerlichen Betrag überlassen hatten.« Jetzt tippte er auf den Vertrag, den Tom mitgebracht hatte. »Wir wollten, dass Polly auch ein Stück vom Kuchen abbekommt.«
Tom blinzelte und ließ die Waffe sinken. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Warum habt ihr der Eisenbahngesellschaft die Grundstücke für die Brücke so billig überlassen? Das war doch euer großes Geschäft, oder nicht?«
Sid ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und zog den anderen Ordner zu sich hin. Wütend starrte er Tom an, als wäre der absichtlich schwer von Begriff. »Es ging uns doch nicht um ein paar Dollar für ein bisschen Land links und rechts des Mississippi, Tom. Das sind doch nur Almosen … oder bestenfalls eine kleine Rente für eine alte Dame wie Polly. Uns ging es um viel mehr. Uns ging es um die Stadt.«
»Um die Stadt?«, echote Tom schwach.
Plötzlich glommen Sids Augen auf, und er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Joe hat ziemlich wenig Geld. Aber dafür besitzt seine Familie jede Menge Land am Stadtrand. Ich bin auch nicht sonderlich wohlhabend, aber ich weiß, wie man Verträge abschließt, Gesellschaften gründet und Finanzierungen auf die Beine stellt. Und Thatcher bringt das Kapital.«
Sid öffnete den Ordner, zog ein Dokument nach dem anderen heraus und reichte sie über den Tisch zu Tom, als wäre der ein Buchprüfer, vor dem er sich rechtfertigen musste. Seine Hände zitterten, und er versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Sieh dir das an: Uns gehört der oberste Stock des Bahnhofs, in dem Hotelzimmer entstehen sollen. Das hier ist der Gesellschaftervertrag für die Wohnhäuser, die auf Joes Feldern jenseits der Maple Avenue gebaut werden. Dazu gründen wir eine eigene Baugesellschaft; das sind diese Verträge.«
Er klopfte mit dem Zeigefinger auf das Papier und wanderte dann zu einem weiteren Dokument, das er auf den Tisch legte. »Hier die Pachtverträge mit Harold; wir haben ihm das ›Happy Tavern‹ abgekauft und wollen in der Hill Street einen neuen Saloon mit ihm als Betreiber eröffnen.« Er tippte auf die jeweiligen Papiere. »Das ist unsere neue Eisenwarenhandlung in der Hill Street, das hier wird eine Möbel- und Fensterschreinerei in der Bird Street, und das sind unsere Anteile am Steinbruch hinter dem Cardiff Hill.«
Sid zog weitere Dokumente hervor, bis schließlich der ganze Schreibtisch mit Papier bedeckt war, und atmete tief durch, als wären es Bleiplatten gewesen, die er abgelegt hatte. »Wenn die Brücke kommt, Tom, und sie wird kommen, weil wir alles dafür getan haben … wenn die Brücke kommt, dann fällt der Umweg über St. Louis und Davenport weg, und der ganze Bahnverkehr aus dem Osten nach Kansas City und in den übrigen Westen wird über St. Petersburg laufen. Die Menschen werden kommen und bleiben, weil es Arbeit gibt. Wir werden eine richtige Stadt. Eine Stadt, die zu einem erheblichen Teil Joe Harper, Richter Thatcher und deinem Bruder gehört.«
Sid stemmte wieder die Fäuste auf die Tischplatte. Er beugte sich vor und seine Unterlippe zitterte, als er mühsam beherrscht flüsterte: »Und um auf deine Frage zu antworten, mein lieber Bruder: Nein. Ich habe Tante Polly nicht wegen lumpigen 1 . 500 Dollar umgebracht. In ein
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