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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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zwar sofort.«
    Sally blinzelte eine Träne weg, dann sah sie sich verstohlen um. Etwas Verschlagenes trat in ihre Züge, und sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich … Ich könnte doch meine Schulden auch einfach bei Ihnen abarbeiten, und wir vergessen das Ganze, Mr Sawyer? Wie bei Huck. Nur dass ich bestimmt nicht schreien werde, ich schwöre es!« Sie hob eine Hand, als würde man sie vereidigen.
    Tom wusste nicht, was er sagen sollte. Was zum Teufel dachte sie sich eigentlich?
    Sally deutete sein Zögern falsch, sie lächelte und redete schnell weiter. »Ich hab doch gemerkt, wie Sie mich angesehen haben. Sie können auch mehr haben, wenn Sie wollen. Alles, wenn Sie wollen. Ich kenne eine Scheune, wo wir –«
    »Sally!«, fuhr Tom sie an, und sie verstummte. Er stemmte die Hände in die Hüften und sah verlegen zu Boden. »Hör auf damit. Und zwar sofort. Das wird nie passieren.« Er atmete tief ein. »Ich will einfach nur wissen, was Polly dir für das Geld gegeben hat, verstehst du? Sag es mir. Jetzt. Sonst machst du alles nur noch schlimmer.«
    Sally blinzelte. Sie wischte sich die Tränen weg, und ihre Augen funkelten vor Zorn. Dann begann ihre Unterlippe zu zittern, und sie schrie ihn an. »Fragen Sie doch Ihren feinen Bruder, wenn Sie’s genau wissen wollen! Fragen Sie doch Sid!«
    ~~~
    »Was kann ich für Sie tun, Sir? Wollen Sie wechseln? Greenbacks oder Shinplasters, US-Silber, Dollarscheine und Territoriumsnoten. Wir haben alles da.« Der schmächtige Bankangestellte mit dem Backenbart trug ein weißes Hemd, eine schwarze Weste und einen schwarzen Schirm über den Augen. Er spähte misstrauisch hinter den lackierten Gitterstäben seines Schalters hervor und musterte den seltsamen Kunden, den er vor sich hatte.
    Tom wusste, dass er – unrasiert, übernächtigt und mit seiner inzwischen gelbgrün schimmernden Beule an der Stirn – eher wirkte wie ein Bankräuber. Doch es war ihm egal. Er stand in der »St. Petersburg Financial & Agricultural Bank«, wie das rote Schild mit den weißen Lettern über dem Portal des Backsteinbaus am Broadway verkündete. Hollis jaulte draußen, weil Tom ihn vor der Tür angebunden hatte.
    Tom sah sich in dem holzgetäfelten Schalterraum um, schüttelte freundlich den Kopf und sagte: »Danke. Ich möchte nichts wechseln, ich suche –«
    Dann sah er die Tür, auf der in Augenhöhe Messingbuchstaben mit dem Namen seines Bruder prangten: »Sidney Sawyer«. Tom zog eine Augenbraue hoch und ging auf die Tür zu.
    Der Bankangestellte hob protestierend die Hand. »Sir! Bitte, Sir, Sie können da nicht so einfach …! Mr Sawyer hat einen –«
    Doch Tom hatte die Tür bereits aufgezogen.
    Sid saß in einem rot-braun karierten Tweedanzug hinter einem wuchtigen Schreibtisch, seine runden Wangen waren gerötet, die blonden Haare streng gescheitelt und über eine kahl werdende Stelle am Hinterkopf gekämmt. An der Wand hinter ihm standen Rollladenschränke voller Akten. Ihm gegenüber saß eine ältere Dame in einem brombeerfarbenen Flanellkostüm und mit einem beeindruckenden grauen Dutt. Beide blickten überrascht zur Tür, als Tom eintrat, und Sid stöhnte. »Wallace, ich hab doch gesagt, ich bin in einer –« Er stockte, als er Tom im Türrahmen erblickte.
    Tom tippte an die Krempe seines Huts und nickte der verwirrten Lady zu. »Ma’am. Hallo, Siddy. Wir müssen reden.«
    Sid blickte verwirrt zu seiner Kundin, dann wieder zu Tom. Er versuchte seine sich überschlagende Stimme zu beherrschen. »Tom! Was soll das? Warum platzt du hier einfach so herein?«
    Hinter Tom erschien Wallace, der Bankangestellte, im Türrahmen. »Tut mir leid, Mr Sawyer, aber dieser Gentleman ist einfach reingegangen, ohne zu –«
    »Das ist kein Gentleman, Wallace«, unterbrach Sid ihn. »Das ist mein Bruder. Und er wird augenblicklich wieder gehen, sobald er sich bei Mrs Buford für diesen unangemessenen Auftritt entschuldigt hat.«
    Mrs Buford verstand offensichtlich nicht, worum es gerade ging, aber sie nickte aufmunternd, als ihr Name fiel.
    Tom nickte freundlich zurück. »Das werde ich nicht. Tut mir leid, Ma’am, aber Sie müssen jetzt gehen.« Er reichte ihr die Federboa, die über der Rückenlehne ihres Stuhls hing.
    Mrs Buford schnappte nach Luft und sah zu Sid, der nun aufstand und inzwischen krebsrot angelaufen war. »Was fällt dir ein, Tom! Du verlässt sofort mein Büro, oder ich –«
    »Wir müssen über eine Brücke reden, Siddy. Über Tante Pollys Garten und

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