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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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habe ihren Körper gespürt, ich habe gespürt, dass sie … eine Frau ist, verstehst du? Und dann hat sie mich geküsst. Aber nicht wie Rebecca. Ganz anders. Und sie hat gesagt, dass ihr Vater bis zum Abend weg ist und –«
    Tom hob die Hand. »Bitte! Ich will das gar nicht wissen, Sid. Wie lange ging das zwischen dir und ihr?«
    »Ein paar Wochen, mehr nicht. Seit einem Monat ungefähr ist es aus. Ich weiß nicht, warum. Sie wollte es plötzlich nicht mehr. Und das war auch gut so.«
    Bis vor einem Monat? Vor einem Monat war das Gemeindefest. Huck spricht Sally auf das Geld an, das sie Polly schuldet. Das Geld wofür?
    In Toms Kopf bildete sich ein unangenehmer Druck. Eine schlimme Ahnung kroch in ihm hoch, ein Ahnung, wofür Sally seiner Tante Geld gegeben hatte.
    Sie wollte es plötzlich nicht mehr.
    Tom schüttelte sich. Er wollte diesen Gedanken nicht zulassen. Er musste mit den anderen Frauen auf Pollys Liste sprechen. Und mit Huck. Der würde es wissen. Aber wollte er ihn überhaupt fragen? Auf einmal sah Tom das Bild eines blutverschmierten, groben Leinensacks vor sich. Ihm wurde schwindelig.
    Ich will das nicht!
    Was hatte Sallys und Sids Geschichte mit dem Mord an Polly und Jeb zu tun? Und mit dem Verschwinden der Frauen? Und mit Hattie? Hatte es überhaupt etwas damit zu tun?
    Sid beugte sich vor. »Bitte, Tom. Du darfst es Rebecca nicht sagen. Du würdest sie damit furchtbar verletzen.«
    Tom schnappte nach Luft. » Ich ? Ich würde sie damit furchtbar verletzen?«
    Sid schüttelte den Kopf, in seiner Stimme schwang Verzweiflung mit. »Ich liebe sie, Tom! Und ich will sie heiraten. Und ich weiß auch, dass … sie dich wahrscheinlich immer noch liebt, und ich nehme an, du liebst sie auch. Das war in den letzten Tagen nicht zu übersehen.«
    Tom schluckte und sah zu Boden. Von irgendwoher stieg ihm der Geruch eines Feuers in die Nase. Er hob abwehrend die Hände. »Tut mir leid, ich weiß nicht –«
    »Nein, Tom. Versuch’s erst gar nicht. Ich weiß genau, dass es so ist. Aber wir beide wissen auch, dass du sie niemals heiraten wirst. Du wirst sie nur wieder unglücklich machen. Irgendwann haust du wieder ab. So wie damals. So wie immer. Du kannst dich einfach nicht entscheiden, so ist es doch, und du wirst ihr das Herz brechen.«
    Tom schwieg, und Sid tippte sich an die Brust. »Ich kann sie glücklich machen, verstehst du? Ich kann ihr etwas bieten, und ich werde ihr immer treu sein, das weiß ich jetzt. Das schwöre ich, so wahr ich hier sitze.«
    Sid machte eine Pause und holte tief Atem. »Erzähl ihr nichts von Sally, in Ordnung? Und lass sie gehen, bitte. Ihr zuliebe. Mir zuliebe.«
    Tom konnte seinem Bruder nicht in die Augen sehen. Rauchschwaden zogen über den Dächern vor dem Fenster dahin. Irgendjemand machte ein kräftiges Feuer, und es schien Tom, als würden die schwarzen Wolken direkt aus seinem Herzen kommen.
    »Tom?«
    Tom blickte auf. »Was war mit Hattie?«
    »Mit Hattie?« Sid schüttelte verwirrt den Kopf.
    »Hattie Cooper. Die für Dobbins arbeitet … gearbeitet hat. Du hast einen Zettel in Lucius Austins Laden aufgehängt, dass du eine Haushaltshilfe suchst. Für das Haus der Farraguts, in das du mit Becky ziehen wolltest. Hattie hat den Zettel gesehen und wollte dich deswegen sprechen. Letzten Sonntag.«
    Sid schüttelte den Kopf, schien vollkommen ratlos zu sein. »Ja? Ich hab sie nicht gesehen. Den Zettel hab ich schon ganz vergessen. Das mit Polly … Am Montag war die Beerdigung. Ich … war nicht ganz bei mir, aber ich weiß, dass Hattie nicht vorbeigekommen ist.«
    Tom sah, dass Sid die Wahrheit sagte. Im Lügen war Sid, anders als Tom selbst, nie sonderlich gut gewesen. Und wenn er doch einmal log, hatte Sid immer einen scheelen Blick auf den Boden geworfen, als wäre dort irgendwo die Wahrheit zu finden. Tom war sich sicher: Sid wusste wirklich nicht, wovon sein Halbbruder redete, und hatte Hattie vermutlich am Sonntag nicht gesehen. Es war schlicht zum Verzweifeln. Niemand hatte sie gesehen. Niemand hatte den Mann gesehen, der Jeb fertiggemacht hatte. Niemand wusste etwas, und er wusste auch nichts. Morgen war Hucks Prozess, und auch wenn er jede Menge schmutzige Dinge über Sally und über Sid und über halbseidene Spekulationen und krumme Geschäfte mit der Eisenbahn erfahren hatte, so war er doch keinen Schritt weiter, Pollys Mörder zu finden und Huck zu entlasten. Nichts. Nur diese dumpfe, schreckliche Ahnung, die sein Herz umklammerte wie eine eiserne

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