Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
die Becky ihm gezeigt hatte, tauchte vor ihm auf.
Huck sah Tom an, als müsse der etwas dazu sagen, zu dieser unfassbaren Ungeheuerlichkeit. Tom atmete tief ein und sagte: »Und?«
Huck schüttelte den Kopf. »Und nichts! Ich steh einfach da und kann nichts tun. Da kommt Siddy rein und sieht mich so stehen, und ich sag noch: ›Sie ist tot‹, oder so was. Und wie er mich so anguckt, wird mir klar, wie das Ganze aussehen muss, und ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, und stoß ihn weg und renn raus. Ich renn den Fluss runter, warum, weiß ich auch nicht. Ich hab mich rumgetrieben, war im Wald und im Schlachthof, hab nicht gewusst, was ich machen sollte. Keine Ahnung, wie lange. Ein’n Tag, vielleicht zwei. Dann brauchte ich unbedingt was zu trinken und bin durch die Hintertür ins Red Oak geschlichen und hab mir ’ne Flasche besorgt. Ich versteck mich bei Gustavson hinterm Schuppen und gieß mir die Pulle rein, aber da kommt Gustavson plötzlich um die Ecke und sieht mich. Dann bin ich in den Wald gerannt und hab mich wieder im Schlachthof verschanzt, ich war total fertig und bin eingepennt. Irgendwann hab ich gehört, wie ihr gekommen seid. Den Rest kennst du.«
»Ja. Am Montag sagt sie dir also, dass sie am Samstag Kundschaft hat.«
Huck blickte für einen Moment zu dem Felsvorsprung hinauf und zählte irgendetwas stumm an seinen Fingern ab. Dann nickte er. »Ja.«
»Am Samstag geht Hattie zu ihr und wird seit dem Sonntag vermisst.«
Huck legte die Stirn in Falten. »Hattie, die Kleine, die bei Dobbins sauber macht?«
Tom nickte. »Ja. Ich hab dir doch erzählt, dass immer wieder Frauen verschwunden sind.«
Huck blinzelte verwirrt. »Du hast von Debbie Chisholm gesprochen und Gracie Miller und noch einer jungen Schwarzen …«
»Fanny George.«
»Ja, Fanny George, aber nicht von Hattie. Das ist schlimm.« Huck senkte den Kopf und stocherte wieder in der Glut des kleinen Feuers.
»Ja«, sagte Tom, »das ist es. Am Sonntag ist sie angeblich noch bei Dobbins gewesen – Adah Temple kann das wohl bestätigen –, und dann wollte sie zu Sid, aber da ist sie nie angekommen. Vielleicht hat sich Dobbins auch getäuscht, und es war Samstag, als sie zu Polly ging und Sid treffen wollte. Vielleicht war sie auch die ›Kundin‹, von der Polly dir am Montag erzählt hat. Oder sie ist abgehauen, weil sie etwas mit dem Mord zu tun hat.«
Huck schüttelte sich. »Du glaubst, sie hat Polly erschlagen?«
»Schwer vorstellbar, was? Nach allem, was ich höre, war sie eher klein und zierlich, und … Warum sollte sie das tun? Angeblich war sie mit meiner Tante befreundet. Andererseits: Warum sollte Polly für sie tun, was sie für die anderen Frauen getan hat?«
»Die beiden mochten sich, Tom. Letztes Jahr is’ deine Tante in ihrem Gärtchen von ’ner Klapperschlange gebissen worden. Hattie war zufällig in der Nähe und hat Polly wohl das Gift aus dem Bein gesaugt. Deine Tante bekam Fieber, aber nicht schlimm, und dass sie überlebt hat, hat sie Hattie zu verdanken. Seitdem haben sie zusammen gebetet.«
Tom sah Huck erstaunt an. Also stimmte es, was Sally Austin erzählt hatte.
Huck räusperte sich. »Deine Tante hatte nichts gegen Schwarze. Und schon gar nichts gegen Hattie. Sie waren wirklich Freundinnen, wenn man das sagen kann, so wie halt ’ne weiße Lady und ’ne junge Schwarze Freundinnen sein können. Jeder mochte Hattie; Joe wird verrückt vor Sorge sein.«
»Joe Harper? Der war eher gleichgültig, als ich mit ihm bei Dobbins war und wir ihn zu Hatties Verschwinden befragt haben.«
»Gleichgültig?« Huck schüttelte energisch den Kopf. »Joe hielt große Stücke auf sie. Hat ihr sogar ein Kleid geschenkt.«
»Ein Kleid?«
»Ja, so ’n buntes Ding mit Blumen drauf. Er hat’s ihr geschenkt, das weiß ich, ich hab’s gesehen, vor ein paar Wochen, als ich Dobbins ’n paar Steinsamen vorbeigebracht hab. Sind so Blumen, die ganz selten sind, aber ich weiß, wo sie wachsen, und Dobbins hat mir Geld dafür gegeben. Lithospermum ruderale sagt Dobbins zu denen, das hab ich mir gemerkt. Jedenfalls will ich ihm die Dinger bringen, da seh ich Joe Harper, wie der sich bei Dobbins’ Schuppen rumdrückt. Er hat mit Hattie geredet und ihr das Kleid geschenkt. Ich glaub, sie fand das Kleid toll. Aber mehr hab ich nicht gesehen; wollte nicht, dass Joe mich entdeckt.«
Vor Toms Auge tauchte das geblümte Kleid auf, das er unter Hatties Bett gefunden hatte. »Warum hat er das getan? Warum schenkt er ihr
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