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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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Kratzspuren waren als helle Striche im dunklen Holz zu erkennen. Tom beugte sich vor und zupfte mit den Fingern irgendetwas von einem Holzsplitter ab. Er zeigte es Becky.
    »Ein Haar?«
    Er nickte. »Dunkel und gelockt. Vielleicht von mir. Vielleicht von Hattie.«
    Becky sah ihn stumm an, als Shipshewano wieder aufstand und auf die steile Böschung hinter dem Wagen deutete. »Spuren von Pferd. Gehen dort hoch.«
    Tom nickte mit dem Kinn zu Pepinawah. »Der Junge soll hierbleiben. Mit den Pferden. Er kann da drüben im Gebüsch warten. Es ist nicht weit, wir müssten bald dort sein.«
    Erstaunt schüttelte Becky den Kopf. »Du weißt, wo er ist?«
    Tom zog den Colt und lief los, folgte den Spuren die Böschung hinauf. »Er ist im Spukhaus.«
    ~~~
    Sie rochen es beinahe eine halbe Meile, bevor sie dort waren.
    Die Mischung aus Verwesung und Hundepisse hing im Wald wie ein schwerer Schleier. Efeu, der alles überwucherte, was aus dem Boden wuchs, und der bis in die Kronen der hohen Bäume vorgedrungen war, machte aus dem steil einfallenden Sonnenlicht eine grüne Dämmerung. Gelbe Wolken aus Kiefernstaub schwebten zwischen den Bäumen, und das Zirpen der Grillen und das Rascheln im Unterholz waren fast unnatürlich laut. Tom bemühte sich, nicht auf einen Zweig zu treten, dennoch machte er mehr Geräusche als Shipshewano, dessen Züge angespannt wirkten, während er fast lautlos neben Tom durch den Wald schlich.
    Becky hatte die Derringer in der Hand, die sie Sid abgenommen hatten, und hielt sich knapp hinter den Männern. Wieder einmal hatte Tom vergeblich versucht, sie dazu zu bewegen, bei Pepinawah zu warten. Sie hatte nichts gesagt auf sein Bitten hin, sie hatte nur die Waffe gezogen und war an ihm vorbei die Böschung hinaufmarschiert. Shipshewano hatte Tom angegrinst und war ihr gefolgt.
    Hinter der Böschung wurde das Gelände flacher. Sie befanden sich in einem bewaldeten Tal, westlich vom Cardiff Hill. Die verfallene Hütte eines Einsiedlers, die seit ihrer Kindheit »das Spukhaus« hieß, stand seit Jahrzehnten leer. Als Tom und Huck noch Kinder gewesen waren, hatten sie dort Schatzsucher gespielt, als plötzlich zwei üble Gestalten in das Haus kamen und die Jungen sich verstecken mussten. Einer von ihnen war Indianer-Joe gewesen, der Mr Robinson, den ehemaligen Doktor der Stadt, auf dem Gewissen hatte und der später in der McDouglas-Höhle gestorben war. Tom und Huck hatten beobachtet, wie die Männer ihre Beute vergraben wollten und dabei tatsächlich auf einen versteckten Schatz stießen. Das Ganze schien ihm im Moment so weit weg, als wäre es jemand anders passiert, in einem anderen Leben.
    Tom merkte auf, als Shipshewano ihn sanft am Arm berührte. Der Häuptling deutete durch die Bäume nach vorn, und Tom entdeckte die braune Flanke eines Pferdes.
    Joes Pferd.
    Es stand angebunden an einem Busch und fraß Blätter. Hinter dem Rücken des schwarzen Hengstes erkannte Tom zwischen den Bäumen die Umrisse der Hütte. Er trat auf einen Ast, und das Pferd hob den Kopf und schnaubte. Tom fluchte lautlos, dann schlich er vorsichtig näher an das Haus heran. Der Gestank wurde schlimmer. Niemand war zu sehen, Tom hörte keine Stimmen, keine Schritte. Aber er vernahm das Winseln von Hunden.
    War Hollis dabei?
    Er wollte sich nicht vorstellen, was das zu bedeuten hatte. Hucks Worte kamen ihm in den Sinn: Dieser kranke Bastard. Er hat sie ausgeweidet und dann liegen lassen.
    Geduckt ging Shipshewano auf die Hütte zu. Tom wandte sich zu Becky um und flüsterte. »Bitte warte hier. Ich rufe dich, wenn es sicher ist, in Ordnung?«
    Becky schluckte. Aber sie nickte, blieb bei Joes Pferd und richtete über dessen Rücken die Derringer auf die Hütte. Tom folgte dem Häuptling. Er hob seinen Colt und schob Äste beiseite, um die Hütte besser sehen zu können. Einen Moment lang verschwamm sein Blick. Er blinzelte.
    Die Holzwände der Hütte waren grau und verwittert, das ganze Häuschen stand schief, als würde es jeden Moment einstürzen. Nur die jungen Bäume, die aus den Fenstern und aus dem Dach wuchsen, schienen es noch zu halten. Efeuranken quollen aus den Ritzen in den Bretterwänden, heruntergefallene Dachschindeln lagen um die Hütte herum, dazwischen eine rostige Pfanne und eine verschimmelte Matratze. Die Tür der Hütte hing schief in den Angeln, die Fenster glichen schwarzen Augenhöhlen in einem Totenschädel.
    Shipshewano sah zu Tom, deutete auf sich und dann mit seinem Gewehrlauf auf eines der Fenster.

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