Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Bäume und spähte in das dunkelgrüne Zwielicht. »Tom Sawyer!«, rief er plötzlich, und Tom war mit drei Schritten bei ihm.
Shipshewano deutete auf ein Gebüsch, hinter dem die Umrisse eines Wagens zu erkennen waren. Tom zückte den Colt, den ihm Shipshewano geliehen hatte, und biss die Zähne zusammen, weil die Bewegung ihm Schmerzen in der angeschossenen Schulter verursachte. Er bedeutete Becky, sie solle am Waldrand warten, und Shipshewano flüsterte seinem Sohn etwas zu, was Tom nicht verstand, und der Junge blieb bei den Pferden stehen.
Vorsichtig schlichen Tom und der Häuptling sich an. Der raschelnde Bärlauch wich einem dichten Teppich aus Efeu, der ihre Schritte dämpfte. Eine Spottdrossel zwitscherte irgendwo hoch über ihnen. Harper hatte den Wagen hinter dem Gebüsch versteckt, wie es schien. Von ihm selbst und von dem Pferd fehlte jede Spur.
Versteckte er sich?
Tom deutete Shipshewano an, er solle sich rechts um das Gebüsch herum anschleichen, während Tom die andere Seite übernahm. Irgendwo knackte ein Ast, und ein Eichhörnchen sprang erschrocken auf einen Baum. Behutsam setzte Tom einen Fuß vor den anderen, bis er einen freien Blick auf den Karren hatte. Es war ein schlichter, älterer Buckboard-Wagen, ein leichtes vierrädriges Gefährt, das eine kleine Ladefläche hatte und auch mit einem Verdeck versehen werden konnte.
Tom entsicherte den Revolver, ging um das Gebüsch herum und legte auf den Wagen an, als plötzlich Stimmen und Hufgetrappel an sein Ohr drangen.
»Tom! Da kommen Männer! Das ist bestimmt ein Suchtrupp!« Aufgeregt deutete Becky auf den Weg, der sich den Cardiff Hill hinabwand.
»Bleibt, wo ihr seid! Sag ihnen, du hast Pferde gekauft und der Junge hilft dir mit ihnen!«
Tom drückte sich ins Gebüsch, und Shipshewano tat es ihm gleich. Wenig später sahen sie eine Gruppe von vier Männern auf Pferden, die den Waldweg heraufpreschten. Jeder hatte ein Gewehr vor sich auf dem Sattel liegen. Drei ritten an Becky vorbei, doch einer zügelte sein Pferd und blieb bei ihr stehen.
Der breitschultrige Mann mit Schnauzbart, langen blonden Haaren und einem schwarzen Schlapphut fragte sie etwas, was Tom nicht verstehen konnte. Becky deutete auf Pepinawah, dann den Hügel hinauf, wo das Haus der Witwe Douglas stand. Der Mann tippte sich an die Hutkrempe, als wolle er sich verabschieden, doch dann ließ er den Blick durch den Wald schweifen und blickte in Toms Richtung. Er schien zu zögern, griff nach seinem Gewehr. Hatte er die frischen Spuren im Bärlauchfeld entdeckt?
Becky folgte seinem Blick und stellte ihm rasch eine Frage. Der Mann wandte sich wieder zu ihr, nickte, dann gab er seinem Pferd die Sporen, um seine Begleiter einzuholen. Wenig später war er hinter einer Wegbiegung verschwunden.
Tom atmete auf. Er nickte Becky zu, drehte sich um, nahm den Colt hoch und ging die letzten Schritte auf den Wagen zu, der hinter dem Gebüsch stand. Auch Shipshewano richtete sein Gewehr auf das verlassen dastehende Fuhrwerk. Eine Plane lag auf der Ladefläche. Tom streckte die freie Hand aus, machte noch einen Schritt und griff nach der Plane. Mit einem Ruck zog er sie vom Wagen.
Die Ladefläche war leer. Da war gar nichts.
Tom warf einen kurzen Blick unter den Wagen, doch auch dort war nichts zu sehen. Niemand war bei diesem Wagen, nichts war auf diesem Wagen. Shipshewano spähte in die Umgebung, dann ließ er den Gewehrlauf sinken, kniete sich hin und untersuchte den Waldboden. Tom musterte die Beschläge auf den Rädern des Fuhrwerks. Neben einem Nagel fand er zwei kleine halbmondförmige Risse. Als er sich aufrichtete, stand Becky neben ihm.
Tom nickte. »Das ist der Wagen. Joe Harper hat mich zu diesem Bahndamm gebracht, und er hat Jeb auf dem Lovers’ Leap getroffen.«
Becky zog eine Augenbraue hoch. »Kann sein. Aber das ist nicht sein Wagen.«
»Nicht sein Wagen? Warum?«
»Ich kenne den Wagen. Er gehört Mrs Temple. Ihr Mann, der Pflugverkäufer, ist nie da, sie braucht das Ding kaum und leiht ihn gerne aus. Ich hab ihn mir auch schon ausgeliehen, um neue Platten für die Boston-Presse zu transportieren.«
Tom nickte grimmig. »Wie dem auch sei. Das ist der Wagen. Und Joe scheint ihn öfter auszuleihen.«
Er trat an die Ladefläche und nahm sie genauer in Augenschein. Auf einem der groben Bretter, aus denen das Fuhrwerk zusammengenagelt war, entdeckte er mehrere dunkle Flecken. Blut? Die Bretter waren geschrubbt worden, vielleicht mit einer Wurzelbürste; die
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