Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
ihn über den Kopf. Dann nickte er Shipshewano zu.
Der Kerl draußen kam näher, und Tom hörte am Rascheln der Röcke, dass Becky ihm folgte. »Nicht! Bitte! Wir müssen uns wirklich beeilen!«
Seine Stiefel waren bereits auf der Veranda zu hören. Er war schon fast in der Hütte, als eine Stimme aus dem Wald rief: »George! George, wo steckst du? Sie haben sie!«
George, der Typ mit dem Schnauzbart, blieb vor der Hütte stehen und drehte sich um. Ein hagerer, bärtiger Kerl mit einer sonnenverbrannten Glatze trabte auf seinem Schimmel zwischen den Bäumen hervor. Ein uraltes Springfield-Zündnadelgewehr lag quer über seinem Sattel. Er grinste und tippte sich kurz an den Hut, als er Becky sah. »Sie haben sie gefunden! Auf Jackson Island haben sie sich versteckt. Den einen bringen sie gerade in die Stadt, der andere ist wohl noch irgendwo auf der Insel. Komm, wir reiten zurück, damit wir es nicht verpassen, wenn sie ihn hängen!«
George spuckte aus. »Verdammte Scheiße, hätt die Kohle gut gebrauchen können!«
Tom gefror das Blut in den Adern, und ihm wurde übel. Huck! Diese Mistkerle hatten ihn gefunden.
Der Alte stieß den Rebellenschrei aus, wendete seinen Schimmel und verschwand zwischen den Bäumen. George stapfte hinterher und stieg auf sein Pferd. Er nickte Becky kurz zu. »Tut mir leid, Miss. Aber das kann ich mir nicht entgehen lassen.« Er gab dem Pferd die Sporen und preschte durch das Gehölz. Wenige Sekunden später sah und hörte man nichts mehr von den beiden Männern.
Becky rannte zur Hütte zurück. Tom war an der Wand entlang zu Boden gesunken und rieb sich die Stirn. »Scheiße. Verdammte Scheiße!«
Sie kniete sich vor ihn hin. Ihr Blick war hart, durchbohrte ihn erbarmungslos. »Sie haben Huck. Und Joe liegt im Sterben. Was jetzt, Tom Sawyer?«
Tom hob die Hand und ließ sie erschöpft wieder sinken. »Ich weiß es nicht.«
Er wusste nur, dass er schlafen wollte, einfach nur schlafen. Tom schloss die Augen.
Beckys Lippen wurden schmal. Sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn heftig. »Hey! Lass dir bloß nicht einfallen, jetzt aufzugeben! Du musst etwas tun, Tom! Denk nach! Du weißt doch, wie es geht! Du hast doch gesehen, wie Lincoln mit Schwierigkeiten umgeht! Was hätte der Präsident getan?«
Der Präsident.
Das Blut.
Die Handschuhe.
Tom öffnete die Augen wieder. Sie waren glasig.
»Tom! Tom, rede mit mir, was machen wir jetzt?«
Er wandte den Kopf zu Joe und blickte auf die blutbefleckten Handschuhe.
Dann nickte er. »Der Präsident hätte die Navy geschickt. Und das machen wir jetzt auch.«
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Das perlenden Lachen der Damen ging über in einen entsetzten Aufschrei, als die beiden Indianer polternd ins Haus traten. Mrs Temple stieß vor Schreck gegen das Tischchen mit der Spitzendecke, und die Teetassen klirrten aneinander. Der Raum duftete nach frischem Apfelkuchen und nach schwerem Parfüm. Major Crittenden stand so rasch von einer geblümten Chaiselongue auf, wie sein massiger Körper es zuließ, und tastete mit fahrigen Bewegungen am Gürtel nach seinem Armeerevolver, bis ihm klar wurde, dass er ihn wohl oben in seinem Zimmer hatte liegen lassen.
»Was wollen Sie hier? Was machen Sie in meinem Haus?« Mrs Temples Stimme überschlug sich angstvoll, und sie krallte die Hände in die mit schwarzer Seide und mit Pelzimitat besetzten Aufschläge ihrer Jacke.
Der alte, gebeugt gehende Mann mit den strähnigen schlohweißen Haaren hielt sich im Hintergrund, während der jüngere mit der eindrucksvollen Adlernase auf sie zuging. Draußen vor dem Fenster stand ein Junge, ebenfalls ein Indianer, der bei den Pferden geblieben war und mit einem kleinen Hund spielte.
Als die Damen sich ängstlich um Major Crittenden drängten, der offensichtlich auch nicht wusste, was er tun sollte, hob der jüngere Indianer die Hand. »Keine Angst. Wir wollen reden mit Major Crittenden. Dieser Mann …«, Shipshewano nickte über die Schulter zu seinem Begleiter, »dieser Mann wissen Dinge über Edwin McMasters Stanton.«
Crittenden blinzelte über die Gläser seiner Brille hinweg und musterte den alten Indianer, der gebeugt neben der Tür lehnte und an den schweren Vorhängen vorbei durch das Fenster spähte. Plötzlich überzog ein feines Lächeln das Gesicht des Majors, und er nickte. »Ja … ähm … ja, das hatten wir ja besprochen, dass Sie hierherkommen, wenn Sie etwas wissen, nicht wahr?«
Crittenden wandte sich zu den Damen hinter ihm um und setzte eine
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