Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
sich nach Osten und schlug den Weg zum Mississippi ein. Turmhohe uralte Eichen säumten den Weg. Tom biss die Zähne aufeinander, als er in einer Wurzel hängen blieb und beinahe hinschlug.
Nicht stehen bleiben! Renn weiter!
Schließlich wurde der Boden sandig, und der Wald lichtete sich. Er hörte den Fluss rauschen, kurz darauf stand er auf einer Anhöhe, vierzig Fuß über dem Ufer. Tom blinzelte in das gleißende Licht der Nachmittagssonne, das sich im Wasser in tausend Brechungen spiegelte. Zögernd trabte Hollis an den Abgrund, sah hinab und winselte.
»Du solltest lieber hierbleiben, Kumpel.« Tom strich ihm durch das struppige Fell, dann riss er eine dicke Efeuranke von einer Eibe und band Hollis damit am Baum fest. »Wünsch mir Glück, Hollis. Ich kann’s brauchen.«
Er tätschelte ihm den Rücken, und der Hund beobachtete mit schräg gelegtem Kopf aufmerksam, wie Tom sich hinkniete und rückwärts den Abhang hinunterkletterte. Er hielt sich an Wurzeln und Grasbüscheln fest, verlor den Halt und rutschte auf dem sandigen Untergrund nach unten, bis er zwischen den Büschen am Ufer liegen blieb. Tom blickte sich um.
Das Ufer sah hier fast überall gleich aus, aber dann entdeckte er, wonach er gesucht hatte: Etwa hundert Yards flussaufwärts ragten Felsen aus dem Wasser, wo es vor langer Zeit einmal einen Erdrutsch gegeben hatte.
Die Sumachsträucher standen so dicht, dass Tom sich die Wangen und die Hände aufriss, bis er die Stelle erreicht hatte. Erschöpf ließ er sich auf einen Felsen fallen, streckte Arme und Beine aus und atmete tief durch. Dann hörte er vom Fluss her Stimmen und sprang hinter einem Strauch in Deckung.
Es waren Flößer, die einen Verbund von großen Baumstämmen den Fluss hinunterbrachten. Der Rauch eines Feuers auf dem Floß kräuselte sich zum Himmel, einer der bärtigen Männer spielte auf einer Mundharmonika.
Tom blieb hinter dem Strauch in Deckung, regte sich nicht und betete, dass sie endlich vorüberzogen. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis das Floß endlich hinter der nächsten Flussbiegung verschwand. Als er ihnen hinterhersah, entdeckte er etwas zwischen den wild sprießenden Büschen, die in die braunen Wasser des Mississippi ragten.
Die regelmäßige Form des Bootes war zwischen den Blättern leicht zu erkennen. Dobbins hatte keine Zeit gehabt, es besser zu verstecken.
Tom ging hinunter zum Fluss und durchsuchte das Boot.
Auf den Planken entdeckte er eine schwache Blutspur, und eine Faust schloss sich um sein Herz. Einer Eingebung folgend, warf Tom die Ruder in den Fluss. Er suchte unter der Sitzbank nach einer Waffe oder einer Lampe, aber da war nichts.
Über die Felsen rannte er wieder den Abhang hinauf, untersuchte den Boden und entdeckte wenig später abgeknickte Zweige und dann Stiefelabdrücke. Daneben Schleifspuren.
Er hatte sie hierhergeschleppt, doch sein Vorsprung konnte nicht allzu groß sein.
Tom folgte den Spuren bis zu einer Stelle, wo zwischen zwei großen Felsbrocken ein Sumachstrauch mit verwelkten Blättern stand. Der einzige Strauch mit welken Blättern weit und breit. Tom wusste, dass er den Eingang zur Höhle gefunden hatte. Der Busch war mit den Wurzeln ausgerissen und vor den Eingang der Höhle gelegt worden, um diesen zu verbergen. Abgehauene Felsbrocken lagen darum herum, und an den Wänden erkannte Tom verwitterte Spuren des Meißels, mit dem Dobbins den Eingang vor geraumer Zeit verbreitert haben musste.
Tom zog den Busch weg, und der kühle Atem der Höhle schlug ihm entgegen. Einen Moment lang blieb er wie angewurzelt stehen. Er blickte in einen schwarzen Spalt, der im Fels klaffte wie eine offene Wunde. Ein Mal noch war er mit Huck in die Höhle zurückgekehrt, nachdem er sich dort mit Becky verlaufen hatte und den zweiten Ausgang wie durch ein Wunder wiedergefunden hatte. Das war vor über fünfzehn Jahren gewesen, und es hatte ihm damals nichts ausgemacht.
Jetzt schnürte ihm die Angst die Kehle zu. Der Geruch von nassem Kalk und von Fledermauskot, der zu ihm drang, machte, dass sich ihm die Nackenhaare aufstellten.
Becky ist da drin! Geh rein! Jetzt geh rein, verdammt!
~~~
Der Fels war glatt, feucht und glitschig.
Er tastete sich an der Wand entlang. Tom sah nichts mehr. Um ihn herum herrschte völlige Dunkelheit.
Er warf einen Blick über die Schulter zurück. Ganz weit hinten war noch der helle Spalt, durch den er hereingekrochen war. Doch dann machte der Gang eine Biegung, und das letzte Licht verschwand, wie
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