Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
bin’s. Nicht schreien. Wo ist er?« Er löste die Hand vor ihrem Mund.
Ihre Stimme war ein tränenersticktes Flüstern. »Tom!«
Sie zitterte am ganzen Leib. Er strich ihr über das Haar und spürte eine Wunde an der Stirn. Becky zuckte erneut zusammen, und Tom küsste sie auf die Wange, um sie zu beruhigen. »Ich hol dich hier raus. Aber wo ist er, Becky? Wo ist Dobbins?«
»I-ich weiß es nicht! Er … er hat mich niedergeschlagen und hierhergeschleppt. Dann ist er wieder weg. Ich hab geschrien, aber niemand hat mich gehört. Er … Ich weiß nicht, wo er hin ist! Mach … mach mich los!«
Tom legte das Beil weg und nestelte an den Gürtelschlaufen, mit denen Beckys Hände hinter ihrem Rücken gefesselt waren. »Lebt Hattie?«, flüsterte er.
»Hattie …?« Sie stockte, dann begriff sie, wen er meinte. »Sie hat sich bewegt. Vorhin. Sie hat gestöhnt.«
Tom riss an der Schnalle. Er würde die beiden Frauen irgendwie hier herausbringen und dann Dobbins schnappen. Wo immer er auch steckte. Wenn Joe Harper nicht überleben sollte, konnte Becky jedem erzählen, wer der wahre Mörder war. Auch wenn das Huck vielleicht nicht mehr helfen würde.
Die Schnalle sprang auf, Beckys Hände waren frei. »Ich spür meine Finger nicht mehr! An den Füßen sind auch noch Fesseln! Du musst sie wegmachen!«, flüsterte sie.
Tom tastete nach den Fesseln, als er plötzlich hinter sich ein Geräusch hörte. Blitzartig nahm er das Beil, drehte sich um und holte aus.
Es war zu spät.
Die Kaverne explodierte in gleißendem Licht.
Ein greller Blitz blendete ihn, und ein beißender Schmerz fuhr ihm plötzlich in die Nase.
Das Letzte, was Tom sah, bevor das Licht um ihn erlosch, war eine furchterregende Gestalt mit langen blonden Haaren und einer dunklen Brille, die einen Magnesiumblitz in der einen und einen Hammer in der anderen Hand hatte.
Im Versteck, 18. Juli 1865
Tom erwachte von einer sanften Berührung an seiner Wange. Er hatte entsetzlichen Durst, und der nasse Lappen auf seinen Lippen war eine Wohltat.
»Ja. Gut. So ist es besser.« Die Stimme war ebenso sanft wie die Berührungen auf seiner Haut. Dennoch stimmte etwas nicht mit ihr. Es lag an der trügerischen Sanftheit. Die Schmerzen in Toms Nase kehrten mit brutaler Wucht zurück, und er riss die Augen auf.
Und schloss sie wieder vor Qual.
Es war hell, fast taghell, doch über ihm war das Höhlendach. Und dieses Gesicht.
Dobbins. Mit einer langen blonden Perücke. »Hell, nicht wahr? Du wirst dich schnell daran gewöhnen.« Er legte den Lappen beiseite. »So ist es besser. Du wirst gut aussehen, wenn man dich finden sollte.«
Tom wollte sich auf ihn werfen, doch es ging nicht, und er schrie auf. Er war fixiert an Armen und Beinen. Auf einem Tisch. Der Schmerz tobte in seiner Schulter und in seinem Gesicht. In seiner Nase. Er heulte auf, zerrte an den Lederschnallen, die ihn an das Holz banden.
»Beruhige dich, Tom, beruhige dich. Keine Angst. Du siehst nicht aus wie Jeb oder Joe Harper. Du hast noch ein Gesicht, aber deine Nase wird in Zukunft wohl etwas schief sitzen. Verzeih mir.«
Toms Blick verschwamm. Am Rand seines Blickfelds kroch eine Schwärze herauf. Wenn er die Augen schließen würde und sich dieser Schwärze hingab, würde alles besser werden, das spürte er. Doch das ging das nicht.
Er musste die Augen offen halten.
»Wo ist Becky? Was haben Sie mit ihr gemacht?«
Dobbins lächelte. »Du liebst sie immer noch, nicht wahr? Ist es nicht erstaunlich, dass wir uns nicht wehren können gegen unsere Natur? Dass sie uns immer wieder zwingt, Dinge zu tun, die wir vielleicht gar nicht wollen?«
»Wo ist sie?«
Toms Schrei hallte in der Höhle wider, und Dobbins legte den Kopf schief, als würde er dem Klang nachlauschen. Als es wieder still war, sagte er: »Du musst doch nur den Kopf ein bisschen zur Seite drehen, Tom. Sie ist ganz nah bei dir.«
Dobbins nickte zu einer Stelle neben ihm, und Tom riss den Kopf nach links.
Da lag sie tatsächlich. Becky! Fixiert auf einem Tisch, genau wie er. Sie war nicht entkommen. Alles war umsonst gewesen. Becky lag mit geschlossenen Augen neben ihm, den Kopf zu ihm gewandt. Erleichtert stellte er fest, dass sie atmete.
Sie lebt! Gottlob, sie lebt!
Dobbins hatte auch ihr Gesicht mit dem Lappen gesäubert, aber an ihrem Hals waren noch Spuren von getrocknetem Blut und an der Stirn klaffte eine hässliche Platzwunde.
Tom riss an den Lederschnallen. »Was haben Sie mit uns vor? Was haben Sie mit Becky
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