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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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wenn eine Kerze erlosch. In der Schwärze sah er die Hand vor Augen nicht. Da war nichts. Gar nichts.
    Tastend setzte Tom einen Fuß vor den anderen.
    Sein Gehör schien sich in dem Maße zu schärfen, wie seine Sicht abgenommen hatte. Es tropfte von der Decke, und ab und zu hörte Tom etwas über die Wände oder den Boden huschen, eine Eidechse vielleicht oder Ratten. Seine Schritte knirschten. Man würde ihn kommen hören.
    Dobbins würde ihn hören.
    Andererseits würde Tom auch Dobbins hören, falls der kam. Und Tom würde ihn sehen, falls er eine Lampe oder Fackel tragen würde.
    Seine Finger strichen über eine mit Flechten bewachsene Stelle, und von fern hörte er das Gluckern eines Baches. Tagelang hatte Tom mit Becky neben einer Quelle unweit des zweiten Ausgangs ausgeharrt, damals, als sie sich verirrt hatten. Dass sie nicht verdursten würden, war ihr einziger Trost gewesen. Ein schwacher Trost.
    Vorsichtig schob Tom sich vorwärts, immer auf eine Felsspalte oder auf eine abschüssige Stelle gefasst, von denen es unzählige in der Höhle gab, wie er wusste. Er blieb stehen, lauschte in die Dunkelheit, doch da war nichts. Nichts, außer seinem Atem und seinem Herzschlag, der ihm so laut zu dröhnen schien wie die Glocke der Sonntagsschule.
    Das Plätschern wurde lauter. Als er mit dem Fuß ertastete, dass er an dem unterirdischen Wasserlauf war, ging er in die Hocke und trank einige Schlucke aus der Hand. Er fröstelte. In der Höhle war es kalt, und die schweißnasse Lederjacke klebte ihm am Rücken. Als er sich aufrichtete, spürte er einen Windhauch im Gesicht. Er zuckte zusammen und stieß mit dem Hinterkopf gegen einen Felsen. Der Schmerz schoss ihm durch die Schläfen, aber Tom wagte nicht zu schreien.
    Er lauschte atemlos. Da war nichts. Niemand. Oder doch?
    Flügelschlagen?
    Ein leichter, kaum spürbarer Luftzug hatte ihn gestreift. Wahrscheinlich eine Fledermaus. Tom atmete tief durch, dann tastete er sich langsam weiter, tiefer in die Höhle hinein. Aus der Erinnerung wusste er, dass die Wände des Ganges gut sechzig Fuß hoch waren. Gigantische weiße, rötliche und sandfarbene Tropfsteine hingen von der Decke und wuchsen aus dem Boden. Wenn er dem Hauptgang weiter folgen und sich nicht in einem der zahlreichen abzweigenden Nebengänge verirren würde, musste er irgendwann auf die großen unterirdischen Gewölbe stoßen. Sie wirkten, als würden sie von hohen Säulen aus zusammengewachsenen Tropfsteinen getragen, und waren mit Vorhängen aus Stalaktiten geschmückt. Ein schöner Anblick. Bei Licht.
    Plötzlich tappte er mit einem Fuß ins Leere und verlor das Gleichgewicht. Tom unterdrückte einen Schrei, ruderte mit den Armen und taumelte nach hinten. Seine Finger rutschten an dem glitschigen Fels ab, dann fanden sie Halt an einem Tropfstein, und er stand wieder sicher. Er wartete einen Moment, lauschte, doch er hörte nichts. Er stemmte einen Fuß in den Boden und schob den anderen Fuß tastend vor.
    Da war eine Spalte.
    Doch wie breit war sie? Und wie tief?
    Tom streckte den Fuß weiter vor, klammerte sich an den Tropfstein. Da war nichts. Was, wenn er hier nicht weiterkam? Er schob den Fuß noch ein Stück weiter, stand fast im Spagat, als etwas über seine Finger krabbelte. Tom erschauerte, aber er ließ nicht los, und dann fand seine Fußspitze einen Vorsprung. Er streckte sich, suchte mit der freien Hand nach einem Halt auf der anderen Seite der Spalte, aber spürte nur glatten Stein. Keine Vertiefung, nichts, um die Finger hineinzukrallen.
    Tom stand mit gespreizten Beinen über der Spalte, er keuchte, atmete tief ein, dann stieß er sich ab und warf sich auf die andere Seite. Er landete bäuchlings auf dem feuchten Stein, seine Füße rutschten ab, seine Finger kratzten über den Boden, doch dann war da ein Riss im Fels, und er klammerte sich fest. Von seiner Schulter fuhr ein stechender Schmerz durch seine ganze linke Seite, und einen endlosen, grausamen Moment lang hing Tom in der Spalte. Er würde ohnmächtig werden und loslassen.
    Doch er ließ nicht los.
    Denn plötzlich war da etwas.
    Er blinzelte. Einbildung? Spielten seine Augen ihm einen Streich? Nein. Kein Zweifel. Da war ein Umriss. Ein schwacher Schimmer in der endlosen Schwärze.
    Tom biss die Zähne aufeinander und zog sich hoch.
    Keuchend blieb er auf dem kalten Boden liegen. Waren da Schritte? Kam jemand näher? Er zwang sich, ruhiger zu atmen, damit er hören konnte, ob Dobbins auf ihn zuschlich. Er zählte langsam bis

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