Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
hundert und blieb liegen, doch er hörte nichts. Und der schwache Schimmer blieb.
Langsam richtete Tom sich auf. Mit den Fußspitzen tastete er sich vorwärts, während er gleichzeitig nach einem festen Halt an der Wand suchte. Immer wieder blieb er kurz stehen und lauschte, ob Dobbins kam oder ob er sonst ein Geräusch hörte. Ein Rufen von Becky? Einen Schrei? Ein Stöhnen? Doch da war nichts. Nichts als Stille.
Mit jedem Schritt konnte er etwas mehr erkennen in der Düsternis. Der Schimmer wurde zu einem Flackern. Es war eine Kerze, die einsam irgendwo in der Höhle zu brennen schien.
Der Gang vor ihm wurde breiter. Die Kerze stand nicht in einer Felsnische, sondern auf einem Tisch in einer größeren Felskammer. Langsam tauchten lange Regalreihen in der Dunkelheit auf und Zeichnungen auf dem blassen Fels. Angespannt kauerte Tom in einer Felsnische außerhalb des Lichtkegels der Kerze und beobachtete das Versteck, das sich Dobbins geschaffen hatte. Nichts regte sich.
Wo war der Mistkerl? Tom hatte zwar die Spuren zu dem versteckten zweiten Eingang verfolgt, aber in der Eile nicht darauf geachtet, ob es auch Spuren gab, die vom Eingang wegführten. Hatte er Dobbins verpasst? Wie lange brannte diese Kerze wohl schon? Die in das flackernde Kerzenlicht getauchten Zeichnungen auf dem Felsen zeigten weit verzweigte Stammbäume, wenn Tom sich nicht täuschte. Daneben endlose Zahlenreihen und Skizzen von Knochen und von Schädelformen. Dobbins war ein guter Zeichner; das musste man als Lehrer wohl sein. Tom erkannte Vogelköpfe, Spatzen und Finken. Und Hunde. In den Regalen standen Gläser mit konservierten Tieren wie in Dobbins’ Keller.
Menschlicher Uterus. Zehnte Schwangerschaftswoche.
Ein Schauer überlief ihn. Wo war Becky? Was hatte Dobbins mit ihr gemacht? Der Schein der Kerze erhellte den Boden bis etwa fünf Schritt vor ihm. Der Fels dort war glatt und eben, er würde nicht stolpern. Tom tastete neben sich auf dem Boden herum und fand schließlich einen losen Stein, schwer, scharfkantig. Keine besonders wirkungsvolle Waffe, falls Dobbins einen Colt oder ein Gewehr hatte, aber besser als nichts.
Gebückt ging er vorwärts und lauschte. Der Gang mündete in die kleine Felskammer, in der die Kerze brannte. Jetzt sah Tom, dass es zwei Tische waren, die hier aufgebaut waren, grob, aus dicken Brettern zusammengezimmert. Lederschnallen waren daran befestigt, und sie waren mit dunklen Flecken übersät. Blut. Es stank nach verfaultem Fleisch. Tom schluckte, kämpfte gegen die Übelkeit an.
Da waren Sägen und Messer, säuberlich aufgereiht. Operationsbesteck, eine Waschschüssel, Tücher. Auch die fleckig. Kisten und Truhen standen hier, ein großer Reisekoffer mit Messingschnallen, ein Stuhl, ein Fotoapparat, ein aus Steinen gemauerter Ofen. Tiegel, Körbe mit getrockneten Kräutern. Es musste eine Ewigkeit gedauert haben, diesen Ort so einzurichten.
Tom strich mit der Hand über die Flecken auf dem Tisch. Sie waren trocken. Immerhin. Wo war Becky? Wo Dobbins?
Plötzlich hörte er ein Geräusch und ging bei einem der Tische in Deckung.
Ein Seufzen? Oder war es ein Winseln? War Hollis ihm nachgelaufen?
Tom spähte über die Tischkante. Neben Skalpellen und kleinen Schröpfkellen lag eine Art Fleischerbeil. Er griff danach. Niemand kam. Aber das Geräusch war immer noch zu hören. Es schien aus einer dunklen Nische an der gegenüberliegenden Seitenwand der Kammer zu kommen. Es war ein Schluchzen.
»Becky.«
Der Name kam als Flüstern über seine Lippen. Tom richtete sich vorsichtig auf und schlich zu der Nische, die sich als kurzer Gang herausstellte. Er schob sich hindurch.
Nur spärlich flackerte das Kerzenlicht in die angrenzende Kaverne hinein. Wartete Dobbins auf ihn? Hier, im Dunkeln? Er hob das Fleischerbeil und machte beherzt einen Schritt in die Kaverne hinein. Niemand griff ihn an. Das Schluchzen erstarb und wurde zu einem keuchenden Atmen.
Jemand hatte ihn bemerkt.
Er sah die Umrisse einer Gestalt auf dem Boden liegen. Die Brust hob und senkte sich. Eine weibliche Brust. Ein paar Schritte dahinter lag noch ein Körper. Dieser reglos.
Hattie? Oder Becky? Tom schickte ein Stoßgebet zum Himmel, ging in die Hocke und presste ihr rasch die Hand auf den Mund. Er bückte sich zu ihr hinab und erkannte ihren Geruch.
Becky!
Sie zuckte zusammen.
Sie lebte!
Erleichterung durchströmte Tom.
Becky wand sich, stöhnte, versuchte, ihn zu beißen, bis sie sein Flüstern an ihrem Ohr hörte.
»Ich
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