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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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gepresst. Er rollte sich über das Dach und schlug mit dem Rücken auf dem trockenen Boden auf. Der Schmerz, der ihm bei der unsanften Landung in die Schulter schoss, raubte ihm fast die Besinnung. Hollis war bereits unten und bellte ihm laut ins Gesicht, als wolle er sich ernstlich beschweren.
    »Bleib stehen!« Georges Gesicht und der Gewehrlauf tauchten im Dachfenster auf.
    Tom kam stöhnend auf die Knie, dann rappelte er sich auf und rannte los, ein Schuss schlug in die Bohnenstangen neben ihm, und Splitter fetzten gegen seine Wange.
    »Bleib endlich stehen!«
    Tom sprang über den Gartenzaun, und eine weitere Kugel schlug dicht neben ihm in den Boden ein. Er rannte in den Schutz des dichten Waldes, der kurz hinter Dobbins’ Grundstück begann und der zum Lovers’ Leap führte.
    Der Lovers’ Leap. Dahinter die McDouglas-Höhle.
    Dort musste er hin!
    Der Fledermauskot auf Dobbins’ Mantel, die Fledermäuse in den Gläsern und der formlose Hintergrund auf der Fotografie von Debbie Chisholm. Es konnte ein Tropfsteinfelsen sein. Es musste einfach ein Tropfsteinfelsen sein!
    Die Höhle war seine letzte Hoffung. Vielleicht hatte er ja nicht nur Huck von dem zweiten Eingang zu der Höhle erzählt, vor Jahren, als er das Abenteuer mit Becky in der Dunkelheit überstanden hatte. Vielleicht hatte seine Prahlsucht ihn damals dazu verleitet, dieses Geheimnis auch anderen preiszugeben. Vielleicht aber hatte Dobbins den Eingang selbst gefunden, auf seinen Erkundungen, um Blumen und sonst was in der Umgebung von St. Petersburg zu sammeln.
    Wie dem auch sei, es musste einfach die Höhle sein.
    Schnell! Renn schneller, verdammt!
    Huck konnte er jetzt nicht mehr helfen, und Tom hatte nur wenig Hoffnung, dass es Crittenden doch noch gelingen würde, den Mob daran zu hindern, seinen Freund und den Häuptling zu lynchen. Hätte er etwas anders machen sollen? Zusammen mit Shipshewano Crittenden und dessen zwei Lieutenants verstärken, damit sie zumindest zu fünft gewesen wären, und sich erst danach um Becky und Dobbins kümmern? Es war müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
    Wie lange würde es dauern, bis Hollis mit George und den anderen zu einer Treibjagd auf ihn blies? Würde Joe Harper überleben und sagen können, wer ihn so zugerichtet hatte? Wahrscheinlich nicht.
    Mach dir keine falschen Hoffnungen.
    Du bist Beckys einzige Chance.
    Renn schneller, verdammt!
    Tom lief um den Lovers’ Leap herum in östlicher Richtung, hielt sich abseits der Trampelpfade und Waldwege, rannte direkt zwischen den Bäumen hindurch und orientierte sich am Stand der Sonne und an Wegmarken seiner Kindheit, an die er sich dunkel erinnerte. Irgendwann konnte er einfach nicht mehr. Er blieb stehen, keuchte vor Anstrengung, stützte sich an einen Baum, spürte die knorrige Rinde unter den Händen.
    Hör nicht auf! Renn weiter!
    Tom schwitzte, er fühlte sich matt und fiebrig. Hatte sich die Wunde an der Schulter entzündet? Er lief weiter, langsamer jetzt. An einer kleinen Quelle hielt er inne, trank kaltes, klares Wasser, bis ihm der Bauch wehtat. Auch Hollis, der neben ihm hergerannt war, tauchte die Schnauze ins Wasser und trank gierig.
    Tom spritzte sich das kühle Nass ins Gesicht, bis er sich ein wenig erfrischt fühlte. Wenn er sich hier an Ort und Stelle auf den Waldboden legen würde, würde er augenblicklich einschlafen.
    Egal! Jetzt renn!
    Tom überquerte den Waldweg an der Stelle, wo er vor zwei Tagen mit Becky die Spuren des Wagens entdeckt hatte. Der Weg beschrieb eine weite Linkskurve in das enge Tal, das zu der Höhle führte. Tom lief jedoch weiter geradeaus in südliche Richtung. Der zweite Eingang lag noch etwa zwei Meilen weiter flussabwärts am Ufer des Mississippi. Und dann? Wenn er in der Höhle war? Er hatte keine Waffe, keine Lampe, keinen noch so kleinen Kerzenstummel, und er hatte noch nicht einmal die Drachenschnüre, die ihm den Rückweg aus der labyrinthartigen Höhle gewiesen hatten, als er als Kind mit Huck Finn noch einmal in die Höhle gekrochen war. Niemand wusste, wohin er unterwegs war. Falls er scheiterte, musste er fast hoffen, dass die Bluthunde seine Spur aufnehmen würden, damit man ihn und Becky fand.
    Es ging steil bergauf. Der Wald knisterte und knackte vor Trockenheit, und ein Luchs rannte davon, als Tom die Kuppe der nächsten Anhöhe erreichte. Dort gab es eine charakteristische Felsformation, als hätte ein Riese ein paar Felsbrocken achtlos hingeworfen, wie Tom sich erinnerte. Er wandte

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