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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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Vererbungsreihen.
    Toms Blick fiel auf die Fotografie eines Mannes im Ornat eines Priesters, die mitten zwischen den Fäden, Bildern und Tabellen prangte wie eine Spinne im Netz. Der Mann hatte einen strengen Blick, schütteres Haar, eine Brille.
    Ein Augustinermönch aus Brünn in Österreich hat es herausgefunden. Er hat Erbsen gekreuzt, gelbe und grüne wie diese hier, und er hat so die Geheimnisse der Vererbung entschlüsselt.
    Mendel. Hieß er so?
    Aber warum hatte Dobbins Tante Polly umgebracht? Weil auch sie mit Geschlechtlichkeit zu tun hatte? Weil sie Abtreibungen vornahm? Und was hatte das mit Hattie zu tun? War sie eines von Dobbins Experimenten gewesen? Machte Dobbins, was Mendel machte, nur mit Menschen?
    Toms Blick fiel auf das Buch, einen dicken Wälzer zwischen den Phiolen und Tiegelchen auf dem Tisch. Das Buch kam ihm bekannt vor.
    Die Prinzipien der Chirurgie
    Von John Bell
    Collins und Company, New York, 1812
    Tom hatte dieses Buch heimlich mit Becky angesehen, als sie noch Kinder waren. Damals, in der Schule. Dobbins hatte schon immer Arzt werden wollen, es ohne das nötige Geld aber nur zum Dorfschullehrer gebracht. In einer Pause hatte er das Buch, in dem er stets schmökerte, während er die Kinder etwas abschreiben ließ, unbeobachtet auf dem Pult liegen lassen. Tom hatte Becky erwischt, wie sie darin blätterte, und dabei hatte Becky versehentlich eine Seite eingerissen.
    Dobbins war fuchsteufelswild geworden, als er es entdeckte, und hatte die Kinder einzeln aufgerufen, um den Missetäter ausfindig zu machen. Tom hatte sich für Becky gemeldet und die Prügel auf sich genommen.
    Becky.
    Die jetzt in der Gewalt dieses Irren war, der Experimente mit der Geschlechtlichkeit machte. Tödliche Experimente.
    Denk nach! Denk nach, verdammt!
    Er riss das Bild von Debbie Chisholm von der Wand. Es war nicht das Bild eines geschulten Fotografen. Und sie sah entsetzlich aus. Wahrscheinlich hatte Dobbins es gemacht, als er Debbie gefangen hielt. Tom betrachtete den Hintergrund. Grau, zerfurcht, formlos. Das konnte alles Mögliche sein. Eine Decke, ein Fels, eine Mauer, irgendetwas.
    Denk nach, verdammt!
    Er drehte sich um, und der Geruch stieg ihm wieder in die Nase. Der Geruch, mit dem er etwas Entsetzliches verband. Eine entsetzliche Erinnerung. Er kam von dem Mantel, auf den er eben geschossen hatte. Die Kletten, der Dreck auf den Schultern. Kleine trockene Kügelchen, die zerbrachen und stanken, als Tom sie zerrrieb. Aber es war kein Dreck, es waren keine Kletten. Sondern Kot. Der Kot eines kleinen Tieres. Der Geruch hatte Tom einmal drei Tage verfolgt, als er an einem Ort ohne Licht eingeschlossen war.
    Er ist der Hüter des Lichts!
    Tom fuhr herum. Das Regal mit den präparierten Tieren. Das Glas mit der Fledermaus. Noch ein Glas. Eine weitere Fledermaus. Gehäutet.
    Also doch!
    Er wusste jetzt, wo er suchen musste.
    Plötzlich bellte Hollis. Die Tür quietschte in den Angeln, und Tom hörte Schritte. Erst zögernd, langsam, dann schneller.
    »Komm da raus, du Schwein, sonst erschieß ich dich in diesem Loch.« Jim Hollis’ Gesicht tauchte über Tom auf, und der Hilfssheriff richtete den Lauf seiner Gwyn & Campbell auf ihn.
    ~~~
    »Schmeiß die Waffe weg! Jetzt. Und Hände hoch!«
    Tom ließ den Colt fallen. Als er den linken Arm hob, durchzuckte ihn der Schmerz. Er biss die Zähne aufeinander und ließ ihn wieder sinken.
    »Hände hoch, hab ich gesagt, und dann kommst du rauf!«
    »Ich hab ’ne Wunde an der Schulter, Jim. Und wenn ich die Hände oben habe, kann ich nicht die Leiter hochklettern.«
    Jim stutzte, dann wurde sein Blick hart. »Du mieser Klugscheißer. Ich sollte dich gleich hier erschießen! Komm jetzt endlich rauf!«
    Tom ging zu der Leiter und stieg nach oben. »Hör mal, Hollis, du machst einen Fehler, du solltest wirklich –«
    »Halt die Klappe, verdammt!«
    Jim stieß ihm den Lauf des Gewehrs in den Bauch, kaum dass Tom sich aus dem Loch gestemmt hatte. Tom krümmte sich auf dem Boden und stöhnte. Als er wieder aufgestanden war, sah er durch das Fenster, dass ein weiterer Mann vor Dobbins’ Haus bei den Pferden wartete. Tom hatte ihn schon einmal gesehen: breitschultrig, mit Schnauzbart, langen blonden Haaren und einem schwarzen Schlapphut. Es war George, der Kopfgeldjäger, der beim Spukhaus aufgetaucht war.
    Jim baute sich drohend vor Tom auf. Sein rechtes Auge war blau und geschwollen, wo Tom ihn gestern getroffen hatte, als Jim ihm den Weg zum brennenden Gefängnis

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