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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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also lässt die Natur ihn sterben, damit er sich nicht fortpflanzen kann und so die Population gefährdet und die Gesamtheit aller Ochsenfrösche schwächt. Ein perfektes System, seit Millionen von Jahren. Und was machen wir? Hm? Wir ach so hoch entwickelten Menschen mit unserem elenden Mitgefühl und unseren unzähligen karitativen Einrichtungen? Den Armenküchen, den Krankenhäusern, den Temperenzlervereinen, den Genesungswerken und auch, ja, auch den Engelmacherinnen?«
    Tom antwortete nicht, aber Dobbins brauchte niemanden, der ihm antwortete. Er stieß sich von Toms Tisch ab, stellte das Einmachglas auf Beckys Tisch und streckte den Zeigefinger in die Höhe. »Wir pfuschen der Natur ins Handwerk. Jeder Schwachsinnige, Kranke, jeder Säufer, jeder Kriegsversehrte und jetzt auch die Nigger werden bei uns gehätschelt und gepflegt, obwohl sie in ihrer Begrenztheit und mit ihrem minderwertigen Erbmaterial in der Natur eigentlich keine Überlebenschance hätten.«
    Dobbins ging mit gemessenen Schritten um die Tische herum, als wäre die Höhle sein Klassenzimmer. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, während er mit lauter Stimme dozierte. »Dein Huck, dieser Jeb oder auch Dale, die Nigger, die Huren, die Rothäute, sollen die wirklich alle Kinder bekommen, was meinst du, Tom? Wenn man eine Gesellschaft verbessern will, muss man das minderwertige Erbmaterial an der Fortpflanzung hindern und das überlegene, gesunde, starke Erbmaterial zur Fortpflanzung anregen. Das ist es, das ist das Gesetz der Natur, und deine Tante, Tom, hat diesem ehernen Gesetz zuwidergehandelt.«
    Dobbins wandte Tom den Rücken zu, ging wieder zu dem anderen Tisch und begann, Teile des Operationsbestecks in ein Etui zu packen.
    Tom folgte ihm mit dem Blick und erstarrte plötzlich.
    Becky!
    ~~~
    Becky hatte die Augen aufgerissen. Sie war wach, ihre Pupillen zuckten hin und her, und sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen.
    »Schhhhh«, zischte Tom leise und blickte angespannt zu Dobbins. Hatte er etwas gehört?
    Sie schloss den Mund wieder und schwieg. Als sie Dobbins’ Schritte hinter sich hörte, blickte sie Tom angsterfüllt an. Der nickte langsam.
    Genau. Das war Dobbins .
    Becky bewegte die Arme und Beine, zog an den Lederriemen, die sie festhielten, aber Tom schüttelte den Kopf. Er nickte mit dem Kinn zu dem Einmachglas, das Dobbins bei ihr hatte stehen lassen. Es war nicht einmal eine Handbreit von ihren Fingern entfernt. Wenn es ihr gelingen würde, den gläsernen Deckel abzubekommen und ihn zu zerbrechen, dann könnte sie mit der Scherbe vielleicht den Ledergurt um ihr Handgelenk durchschneiden.
    Würde. Könnte. Vielleicht.
    »Der Deckel«, flüsterte er fast unhörbar.
    Becky blinzelte und sah an sich hinunter zu dem Einmachglas. Dann nickte sie ihm unmerklich zu, streckte den Arm und schob die Finger auf das Einmachglas zu, während Dobbins weitersprach.
    »Seit fünfundzwanzig Jahren sitze ich in einem Schulhaus, und weißt du, was ich jeden Tag sehen muss, Tom? Dumme Kinder. Horden von dummen Kindern. Nur gelegentlich ist ein heller Kopf darunter. Und bedauerlicherweise ist es so, dass die dummen Kinder, wenn sie geschlechtsreif sind, wieder dumme Kinder zeugen, und sie zeugen immer mehr Kinder als die Eltern, deren Erbmaterial für die Gesellschaft viel besser wäre. Schon der griechische Philosoph Plato hat erkannt, dass man dagegen etwas tun muss. Rom, Athen, Sparta: Diese Völker wussten noch, dass man das Schwache ausmerzen muss, um das Starke zu erhalten, und ließen minderwertige Säuglinge gleich nach der Geburt töten. In Rom hat man missgebildete Kinder in den Tiber geworfen, in Sparta hat man Neugeborene einfach ausgesetzt. Nur die Stärksten haben das überlebt. Darwin nennt das natürliche Auslese, Tom. Deswegen sind diese Kulturen so groß geworden, deswegen haben sie Jahrhunderte überdauert und Weltreiche beherrscht. Aber heute?«
    Tom spähte aus den Augenwinkeln zu Becky. Sie biss die Zähne aufeinander und streckte sich, bis der Gurt um ihren Oberarm ins Fleisch schnitt. Doch sie kam mit den Fingerspitzen an das Einmachglas heran.
    Dobbins machte eine kurze Pause, er seufzte auf und zuckte bedauernd mit den Schultern. »Wir sind schwach, und unser verdammtes Mitleid lässt uns degenerieren. Das Einzige, was sich in einer Gesellschaft wie der unseren durchsetzen lässt, um das schlechte Erbmaterial zu verbessern, ist erstaunlicherweise der Krieg. Der Bürgerkrieg war letztlich ein Segen für

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