Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
Vom Netzwerk:
Sie kam über die Runden.« Sid zuckte mit den Schultern.
    Tom knetete seine Unterlippe mit Daumen und Zeigefinger. Etwas war merkwürdig an der ganzen Sache. Er griff nach dem Schriftstück und tat so, als würde er es noch einmal lesen, tatsächlich aber dachte er nach. Warum hatte sich Huck Finn für seinen Raub ausgerechnet eine alte Frau ausgesucht, von der jeder wusste, dass sie fast nichts besaß? Warum war er nicht zur Witwe Douglas gegangen? Zu ihrem einsam hinter dem Cardiff Hill gelegenen Haus? Oder zu Richter Thatcher?
    Nachdenklich betrachtete Tom die teuren Teppiche und die Ölbilder an den grün gestrichenen Wänden über der schimmernden Holztäfelung. Die prachtvolle Deckenlampe aus poliertem Messing und mattiertem Glas. Die kostbare vergoldete Standuhr auf dem marmornen Kaminsims. Thatchers königsblauen Gehrock über der maßgeschneiderten Hose und den modischen Stiefeletten.
    »Was willst du tun, wenn du uns morgen verlässt, Thomas?« Richter Thatcher stand auf und trat an das Fenster hinter seinem Schreibtisch. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blickte in die Dunkelheit, die sich über die Straßen von St. Petersburg gesenkt hatte.
    Tom schob die Unterlippe vor. »Ich weiß es nicht. Das Nebraska-Territorium soll in die Union aufgenommen werden, vielleicht versuch ich mein Glück dort. Andererseits könnte ich nach Washington zurückgehen. Man hat mir angeboten, für Johnson in ähnlicher Funktion zu arbeiten wie für Lincoln.«
    »Johnson, wie?« Thatcher schnaubte. »Überleg dir das gut, Junge. Ich habe auch so meine Kontakte in der Hauptstadt, und nach dem, was man so hört, hat sich Johnson schon jetzt einen Haufen Feinde gemacht. Angeblich war er bei seiner Vereidigung als Vizepräsident betrunken.«
    »Washington ist manchmal schwer zu ertragen, Sir. Gönnen Sie einem Mann einen Drink.«
    Thatcher drehte sich um und lächelte dünn. »Auch zwei. Aber unser Präsident scheint so ratlos, welchen Kurs er gegenüber dem Süden einschlagen soll, dass da nicht mal eine ganze Flasche hilft. Man sagt, er habe sich auch seinen Kriegsminister Stanton schon zum Feind gemacht. Du müsstest gut auf ihn aufpassen, wenn du zurück nach Washington gehst, sonst ergeht es ihm vermutlich wie seinem Vorgänger.«
    Toms Augen verengten sich. Es war das zweite Mal an diesem Tag, dass er jemanden auf Lincolns Ermordung anspielen hörte, und es gefiel ihm jedes Mal weniger.
    Thatcher hakte die Daumen in die Taschen seiner Weste ein und wies mit dem Kinn auf das Schriftstück. »Was ist jetzt, Tom? Ich will nicht unhöflich sein, aber ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Unterschreibst du, oder überlegst du es dir doch noch einmal?« Er betrachtete Tom prüfend, die eisblauen Augen wie zwei kleine harte Kieselsteine.
    Tom hielt dem Blick stand und griff nach dem Dokument und der Feder. Als er sie gerade ins Tintenfass tauchte, drang Lärm von der Straße herauf. Stimmen. Es wurde laut gerufen, und man sah den Widerschein von Fackeln an den Holzwänden der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
    Sid sprang auf und trat neben Thatcher, der das Fenster hochgeschoben hatte und sich hinauslehnte. »Was ist da los? Collins? Was rottet ihr euch zusammen? Ist der Sheriff da?«, rief Thatcher hinunter.
    Collins, ein Mann, schmal wie ein Besenstiel, mit schütteren Haaren und mit einem eiförmigen Kopf, hob die Fackel und blickte zu dem geöffneten Fenster hoch. Ein gutes Dutzend Männer waren auf der Straße, sattelten Pferde, luden Flinten durch und brüllten sich Anweisungen zu. Collins grinste nach oben und entblößte sein lückenhaftes Gebiss. »Nein, Mr Thatcher, Sir. Harper ist schon hinten bei der alten Gerberei. Er hat die Bluthunde, und wir treffen uns alle da!«
    »Die Bluthunde? Wofür denn die Bluthunde, in Gottes Namen?«
    »Na wegen Huck Finn! Gustavson hat ihn bei der Gerberei rumschleichen sehen. Wahrscheinlich ist er schon beim Steinbruch, aber die Hunde werden ihn finden, Sir! Wir fangen das Schwein!«
    Collins lachte schrill auf und sprang auf einen braunen Hengst, den ihm ein anderer Mann am Zügel brachte. Die Meute schoss in die Luft und preschte die Hill Street hinab.
    Thatcher schob das Fenster zu. »Tja, Tom. Ich fürchte, sie werden Huck aufknüpfen, bevor er überhaupt in meinem Gerichtssaal gesessen hat. Was meinst du?« Gleichzeitig wandten sich der Richter und Sid um. Sie erstarrten.
    Die Schreibfeder lag unbenutzt auf dem Schriftstück. Toms Stuhl war

Weitere Kostenlose Bücher