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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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Cardiff Hill, Nacht,
10. Juli 1865
    Das Gebell der Bluthunde hallte durch den Wald. Tom keuchte, und das Herz hämmerte gegen seine Brust. Es ging steil bergauf. Man hörte lautes Rufen, und der Schein der Fackeln ließ die Schatten der Männer unheimlich durch die Bäume tanzen. Der Mond kam hinter ein paar Wolken hervor, aber das Licht drang kaum bis ins Unterholz.
    Tom versuchte verzweifelt, sich an die zugewachsenen Pfade auf dem Cardiff Hill und an die Schleichwege seiner Kindheit zu erinnern. Eine Felsgruppe, die aussah wie ein Dampfschiff? Ein kleiner Bach, der einen Wasserfall bildete? Nach rechts? War das ihr alter Weg?
    Er verfluchte sich selbst: Er hatte kein Pferd, keine Fackel, keinen Revolver, nur das Atkinson-Messer in seinem Stiefelschaft. Falls Joe Harpers Männer ihn mit Huck Finn verwechselten und einen Schuss auf ihn abgäben, könnte ihnen das niemand verdenken. Falls Tom Huck jemals finden sollte und falls Huck ein Mörder war und ihn mit einer Schrotflinte bedrohte, würde ihm auch das Messer in seinem Stiefel nichts nützen. Doch sein Colt war noch in der Reisetasche, und die befand sich nun mal in »Harold’s Happy Tavern« in der Bird Street. Warum konnte er nicht ein einziges Mal daran denken, seine Siebensachen mit sich zu nehmen?
    Trockene Äste knackten laut unter seinen Stiefeln, es raschelte im Gebüsch. Ein Waschbär? Oder Huck Finn?
    »Huck? Bist du das? Ich bin’s – Tom!«
    Keine Antwort. Stattdessen kamen die Männer mit den Fackeln und den Gewehren näher. Tom kämpfte sich weiter den Hügel hinauf. Vor wenigen Minuten war er aus dem Haus von Richter Thatcher gerannt und dem Fackelschein der Männer gefolgt. Die Meute war von der Hill Street in Richtung Anleger geritten und dann in die Main Street abgebogen, um sich schließlich bei der Gerberei zusammenzurotten.
    Tom hatte aus der Ferne beobachtet, wie Joe Harper, der auf einem schwarzen Hengst saß, Anweisungen rief und das gute Dutzend Männer in Gruppen einteilte. Tom sah einen weiteren Stern aufblinken und erkannte im Hilfssheriff einen Jugendfreund, Jim Hollis. Neben diesem stand ein stämmiger Mann, der zwei lohfarbene Bluthunde an der Leine führte.
    Als Tom fast bei ihnen war, ritten die Männer los, ohne auf ihn zu achten, doch Tom wusste, dass sie mit ihren Pferden nicht weit kommen würden. Der Cardiff Hill war steil und überwuchert; mit einem Pferd musste man auf dem breiten Weg bleiben, der am Haus der Waliser und am alten Steinbruch vorbei zur Villa der Witwe Douglas führte. Und das wusste Huck auch, deshalb würde er sich ins Unterholz schlagen.
    Der Steinbruch? Die Villa? Früher hatte die Witwe Douglas für Huck immer eine offene Tür gehabt. War Huck dahin unterwegs? Wohin flüchtete er? Wohin wäre ich selbst geflüchtet, fragte sich Tom. Er stolperte über eine Wurzel, schlug sich die Knie auf, rutschte einige Fuß einen Abhang hinunter und landete in einem Bachbett. Stöhnend blieb er liegen.
    »Da drüben, Joe! Da war was!«
    Sie hatten ihn bemerkt. Tom erkannte die Stimme des Mannes, den Richter Thatcher vorher als Collins angesprochen hatte, raffte sich mühsam auf und verfluchte sich erneut. Was wollte er hier? Noch vor wenigen Minuten war er drauf und dran gewesen, Sid sein Erbe zu überschreiben und die Stadt zu verlassen. Natürlich erst nachdem er in »Harold’s Happy Tavern« zu Ende gebracht hätte, was er am Mittag begonnen hatte: die Flasche Whiskey. Und nun rannte er nachts durch den Wald und suchte Huck Finn, um … ja, um was zu tun eigentlich? Um ihn selbst zu fassen? Um ihn vor dem Mob mit den Gewehren und den Bluthunden zu beschützen? Tom wusste es nicht. Er sah sich um und suchte den Pfad, auf dem er gerade noch den Hügel erklommen hatte, als er bemerkte, dass die Farne am Bachufer platt getreten waren. Tom bückte sich.
    Im selben Augenblick pfiff ein Schuss durch die Nacht und schlug in dem knorrigen Baum neben seinem Kopf ein. Rinde spritzte weg und ritzte Toms Gesicht. Er schrie auf und ließ sich zu Boden fallen.
    »Ich hab ihn! Joe! Ich hab den Hurensohn erwischt!«, tönte es triumphierend durch die Nacht. Jemand jubelte. Tom hörte Schritte und das Gebell der Hunde. Sie kamen zu ihm.
    »Einen Scheiß hast du, Jim Hollis!«, schrie Tom aus Leibeskräften. »Hör verdammt noch mal auf, hier rumzuballern! Ich bin’s! Tom! Tom Sawyer! Sag dem Schwachkopf, dass er aufhören soll, Joe!«
    »Tom? Bist du das?«
    Tom stöhnte. Der Hilfssheriff schien genauso beschränkt

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