Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
ein Mann sich verstecken kann, wenn er ein paar Tage verschwinden will. Du weißt, wovon ich rede, Joe?«
Joe Harper richtete sich auf. Mürrisch blickte er von Tom zu seinen Männern, die Toms Ausführungen staunend gelauscht hatten. Seine Kiefer mahlten, dann sagte er leise: »Der alte Schlachthof.«
~~~
Das Tor hing halb aus den Angeln und quietschte, als Tom es aufdrückte. Das Geräusch ging ihm durch Mark und Bein, es hätte Tote aufgeweckt. Falls Huck sie nicht schon vorher bemerkt hatte, dann wusste er spätestens jetzt, dass sie ihn gefunden hatten.
Tom schlich vorsichtig weiter. Die verrotteten Holzbalken des Dachstuhls waren an manchen Stellen eingebrochen, Dachschindeln lagen zersprungen auf dem verwitterten Backsteinboden, und über allem hing der Geruch von Tod und Verwesung. War das schon immer so gewesen? Auch schon vor zwanzig Jahren, als er mit Huck hier gespielt hatte? Damals waren die Gebäude gerade aufgegeben worden, und man hatte einen neuen Schlachthof näher am Anleger für das Dampfschiff gebaut. Jetzt war alles überwuchert, ein Wald aus kleinen Birken hatte das Gebäude eingeschlossen, sie wuchsen aus den Bodenfugen und sogar auf dem Dach. Efeu quoll durch die gesprungenen Scheiben herein, und es war kühl.
Der alte Schlachthof hatte einen hufeisenförmigen Grundriss. Tom war an einem Ende des Hufeisens eingetreten, eine kleine Petroleumlampe in der einen Hand und einen Le-Mat-Revolver, den Joe Harper ihm gegeben hatte, in der anderen. Er folgte dem Weg, den die Schweine nahmen, nachdem die Fleischer sie mit einem Haken am Bein an eine Förderanlage hängten und ihnen die Kehle durchschnitten. Er schwenkte seine Lampe über den Boden und entdeckte mehrere Stiefelabdrücke im Staub. Auch Huck war offenbar dem Weg der Schweine gefolgt.
»Huck? Bist du da?«
Keine Antwort.
Toms Stimme hallte unheimlich durch die Ruine. Er wusste, dass die Männer um Joe Harper ihm nicht viel Zeit lassen würden. Sie waren hinter ihm hergerannt und genau wie er dem kleinen Bach gefolgt, der den Cardiff Hill hinabplätscherte. Als sie kurz zuvor am Schlachthof angekommen waren, hatte Tom bemerkt, wie im Inneren des Schlachthofs ein matter Kerzenschein erlosch. Es gab keinen Zweifel. Huck musste hier irgendwo sein.
Mit Müh und Not hatte Tom den Sheriff davon überzeugt, dass es das Beste wäre, wenn er allein in den alten Schlachthof gehen würde, um nach Huck zu suchen. Joe, Jim Hollis, Collins, Jeb und die anderen Männer sollten das Gebäude von allen Seiten umstellen. Tom wollte versuchen, Huck zu finden und ihn zu überreden, dass er mitkommen sollte, ohne Widerstand zu leisten.
Tom hatte keine Ahnung, ob ihm das gelingen würde, aber er wollte Typen wie Jim mit dem nervösen Finger oder Jeb lieber nicht in Hucks Nähe haben. Aber war das eine gute Entscheidung? War vielleicht tatsächlich Huck der Irre, und es wäre gut gewesen, jemanden wie Jim und Jeb dabeizuhaben? Tom dachte an die Fotoplatte mit dem Bild seiner erschlagenen Tante und erschauerte.
Das Mondlicht drang schräg durch die Löcher im Dach herein und warf einen silbrigen Glanz auf die verrottenden Überreste der Schlachtbank. Zu seiner Linken lag das gemauerte Becken, wo einst die Schweine überbrüht worden waren, damit man auf den Holzbänken dahinter die Borsten mit scharfen Schabern abkratzen konnte. An der Decke verlief das rostige Gestänge, an dem die toten Tiere kopfüber mit Haken aufgehängt wurden, bevor man ihnen den Bauch aufschlitzte.
Tom trat auf etwas, und es knirschte, vermutlich ein Käfer. In der Ferne hörte man den Mississippi rauschen, und von irgendwoher drang der Schrei eines Käuzchens an sein Ohr. Aber sonst war da kein Geräusch. War Huck überhaupt noch hier?
»Huck?«
Wieder keine Antwort.
Tom ging unter dem Gestänge entlang in den mittleren Trakt des Gebäudes und schlich an einer mannshohen Presse vorbei, in der das Fett aus den Fleischabfällen gepresst wurde. Er fühlte sie wieder: diese Last, wenn draußen alle darauf warteten, dass er ihnen den Mann bringen würde, nach dem sie gesucht hatten. Es war wie in der Nacht, als er Lincolns Mörder gejagt und gefasst hatte. Am 26. April, zwölf Tage nach den Schüssen auf den Präsidenten, hatte Tom die Scheune bei Bowling Green in Virginia ausfindig gemacht, in der sich Booth mit David Harold, einem Mitverschwörer, verschanzt hatte. Die Unionssoldaten, die mit ihm gekommen waren, umstellten die windschiefe Holzbaracke. Harold ergab sich sofort
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