Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
der aber nun dringend verdächtig ist, seine Tante … also Toms Tante … also …« Joe stockte und ruderte mit der Linken in der Luft, als würde dort irgendwo das fehlende Schlusswort für einen besonders schönen Satz schweben. »… war!«, beendete er schließlich glanzlos seine Ansprache.
Becky strich den verworrenen Satz auf ihrem Schreibblock durch und blickte auf. »Was ist, Joe? Hat er es getan oder nicht?«, rief sie dem Sheriff zu und hatte zugleich Angst vor dessen Antwort.
Joe ließ sich Zeit, er sah zu Boden, kaute auf der Innenseite seiner Backe und nickte langsam. »Ja, Miss Rebecca. Huck hat versucht, ihm die Waffe zu entreißen, Tom konnte nicht anders. Gut, für einen Mann mit seiner Erfahrung war er ein bisschen unvorsichtig, das muss man sagen. Aber wer kann ihm verdenken, dass er auf den Mörder seiner Tante schoss? Es war Notwehr, und Tom Sawyer, der schließlich in den Diensten des letzten Präsidenten stand, ist über jeden Zweifel erhaben!«
»Na, bei Lincoln hat er ja auch tolle Arbeit geleistet! Scheint so, als wär der Typ ein Experte fürs Erschießen!«, rief jemand aus der Menge, und die Umstehenden quittierten den Einwurf mit Gelächter.
»Ja, und wenn du nicht die Klappe hältst, bist du der Nächste auf meiner Liste!«
Augenblicklich verstummte das Lachen. Die Menge teilte sich, und Tom trat auf den kleinen dicken Pharo-Spieler aus dem »Green’s« zu, der die Bemerkung abgegeben hatte. Der gedrungene Mann mit der karierten Weste und einem Derby-Hut wich einen Schritt zurück.
»Hast du noch so einen Spruch, oder war’s das?«, fauchte Tom ihn an.
Der Pharo-Spieler schüttelte betreten den Kopf. Tom wollte noch etwas hinterherschicken, doch dann spürte er, wie jemand an seinem Hosenbein zog, und sah hinab. Der Mischlingshund kaute an Toms Hosenaufschlägen und rieb den Kopf an seinem Stiefel. Tom schob das Tier mit dem Bein weg.
Joe Harper lächelte breit, hob die Rechte und wies damit auf Tom, als hätte er ihn herbestellt, damit er an seiner kleinen Aufführung teilnahm. »Tom Sawyer, Herrschaften! Ein Junge aus St. Petersburg! Einst beim berühmten Pinkerton und in der Leibwache des Präsidenten, jetzt wieder bei uns!«
Die Menge gab Aaahs und Ooohs von sich, und tatsächlich applaudierten einige.
Tom wandte sich zur Veranda, er schob sich durch die Menge und lief fast genau in Becky hinein.
Sie sah ihn mit großen fragenden Augen an und schüttelte den Kopf. »Tom! Warum …?«
Tom nahm sie am Ellenbogen und zog sie etwas näher zu sich. »Ich erzähl’s dir später. Joe redet Blödsinn«, flüsterte er ihr zu und ging dann die Stufen zur Veranda des Sheriffs hinauf.
Jim Hollis spuckte verächtlich auf die ausgetretenen Dielen, aber er wich Toms Blick aus, als der ihn wütend anfunkelte. Joe Harpers Lächeln gefror, als Tom neben ihn auf die Bühne trat. Er blickte auf die Menge, die murmelnd auf weitere Neuigkeiten wartete, und sprach aus dem Mundwinkel zu Tom: »Was willst du hier, Tom? Ich dachte, du wolltest das erste Dampfboot nach St. Louis nehmen?«
»Ich hab’s mir anders überlegt, Joe. Bringst du mich zu ihm?«
Joes Miene verfinsterte sich. Dann nickte er. »In Ordnung. Lass mich das hier nur kurz zu Ende bringen.« Er hob beide Arme und wandte sich wieder der raunenden Menge zu. »Und so kam es, dass Huck Finn angeschossen wurde. Ein Bauchschuss. Er ging zu Boden, verlor die Besinnung. Aber er lebt. Mr Dobbins hat die Wunden noch in der Nacht versorgt, aber er sagt, es sei unwahrscheinlich, dass Huck Finn durchkommt. Sollte er jedoch durchkommen …«, Joe machte eine Pause, zwirbelte seinen Schnurrbart und stieß dann mit dem Zeigefinger energisch in die Luft, »dann wird er vor Richter Thatcher treten und sich für seine Missetaten verantworten müssen! Denn solange ich Sheriff bin, herrschen in St. Petersburg Recht und Ordnung, und für jeden Mörder gibt es in dieser Stadt auch einen Galgen! Danke, Herrschaften!«
Die Menge applaudierte und johlte, und Joe Harper sonnte sich in ihrer Zustimmung.
Toms Blick traf den von Becky. Er sah, wie ihr Brustkorb sich hob und senkte. Sie seufzte erleichtert und lächelte ihm zu. Tom nickte.
Huck lebte.
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Das Gefängnis war ein unscheinbarer kleiner Backsteinbau, der am südlichen Ende des Ortes mitten in einem Sumpf stand. Wolken von Stechmücken schwebten über dem vertrockneten Schilfgras, und Libellen kreisten über den wenigen Wasserstellen auf der Suche nach Beute. Es war noch früh
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