Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
angeschlagen und war ertrunken.
Tom hatte alles mit ruhiger Stimme erzählt, sein Blick war starr auf den Boden gerichtet. Als Becky ihn ansprach, blickte er auf. Ihre Augen schimmerten feucht. »Was war mit deinem Vater?«
Tom holte tief Luft und setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm, der quer über den Fundamenten lag. »Er kam zurück, und alles war weg. Seine Frau war tot, das Haus war nicht mehr da. Sein Laden war weggeschwemmt. Seine Kinder in einer anderen Stadt. Ich weiß, dass er kurz bei Polly und uns in St. Petersburg gewohnt hat. Ich glaube, er ist einfach durchgedreht. Er hat viel geschrien und war ständig betrunken. Er hat Sid und mich geschlagen, und Polly ist dazwischengegangen. Sie hat ihn irgendwann rausgeschmissen, und er dachte wohl, es wäre besser, seine Jungs bei Polly zu lassen, bevor noch etwas Schlimmeres passiert.
Er hat ihr das Geld dagelassen, das er mit dem Begleitzug verdient hatte. Dann ist er zur Armee zurückgegangen, hat sich nach Texas versetzen lassen und sich den Rangers angeschlossen. Im November ’ 37 ist er in einer Schlacht gegen die Kichai-Indianer in der Nähe vom Red-River gefallen.«
Becky setzte sich neben ihn. Toms Blick war glasig. »Ich wusste nicht einmal mehr, wie er ausgesehen hat, bis ich die Fotografie gefunden habe.«
Becky legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. Sein Mund war trocken. Tom spürte, wie seine Schläfen heiß wurden, er blinzelte, denn nun, so schien es ihm, würde er den Regen nicht mehr brauchen, damit seine Augen feucht wurden. Er stand auf, blähte die Backen und stieß Luft aus.
»Ich schätze, wir sollten losreiten. Sonst kommen wir in ein Unwetter, hm?«
Tom versuchte ein Lächeln, doch es wollte nicht recht gelingen.
Becky trat vor ihn hin, fasste seine Hand. »Wir werden diesen Dreckskerl finden, der deiner Tante Polly und den anderen Frauen das angetan hat, Tom. Egal, wo er sich versteckt.«
Sie lächelte ihn an, der Wind blies ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Tom nickte, auch wenn er nicht wusste, ob der Ritt nach Marion City ihm mehr gebracht hatte als bittere Erinnerungen. Er musste nach Huck sehen. Und mit Dobbins und Joe Harper sprechen. Und mit den Angehörigen der beiden anderen verschwundenen Frauen, falls es welche gab.
Dennoch blieb er stehen, ganz versunken in Beckys Anblick. Warum war er nur jemals fortgegangen? Weil er dachte, St. Petersburg wäre nicht genug und es gäbe mehr zu sehen von der Welt? Weil er dachte, Becky sei nicht genug und sie würde auf jeden Fall auf ihn warten, egal, wie lange er weg sein würde?
»Wie kam das? Das mit dir und Sid?«
Sie blinzelte überrascht. »Ich … Er … Wir kannten uns schon so lange. Und er ist einer der wenigen mit Manieren und mit ein bisschen Grips in dieser Stadt und … Sid ist anständig, weißt du. Und er respektiert mich. Und er respektiert, dass ich meine Freiheit brauche.«
Der anständige Sid. Der respektvolle Sid .
Toms Gefühl von Wärme und Zuneigung für seinen Halbbruder verschwand so schnell, wie es gekommen war. »Deine Freiheit?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ja.«
Tom schüttelte den Kopf. »Du willst frei sein? Und bist was? Reporterin und Verlegerin und Druckerin und noch drei Dinge, und du … du heiratest? Und trotzdem willst du frei sein? Ich versteh dich nicht.«
Es sollte lustig klingen, aber da war ein bitterer Tonfall in seiner Stimme, und Becky fasste es offenbar ganz und gar nicht lustig auf. Sie stemmte die Hände in die Hüften und reckte angriffslustig das Kinn. »Sid hat es verstanden.«
»Ach, der verständnisvolle Sid!«
»Ja. Und du solltest nicht so von deinem Bruder reden! Er hat schließlich –«
Er packte sie und verschloss ihr den Mund mit einem Kuss. Tom wusste, dass es ein Fehler war, noch bevor er es tat.
Idiot! , schalt er sich. Bist du verrückt? Was tust du da? Du bringst alles durcheinander!
Zu seinem grenzenlosen Erstaunen spürte er, wie sie den Druck seiner Lippen erwiderte.
Er schloss die Augen, ihr Körper lag in seinen Armen, er spürte ihren Busen an seiner Brust, sie war leicht und biegsam, und ihr Mund war so weich und warm. Er öffnete die Lippen, sie tat das Gleiche, und er spürte ihre Zunge an seiner, und es war, als durchzuckte eine elektrische Ladung seinen Körper, wie auf diesen Jahrmärkten, wo sie einen an einen Draht fassen ließen, damit man die Kraft der Elektrizität spüren konnte. Er öffnete die Augen langsam wieder und erschrak, als er
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