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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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sah, dass sie die ihren weit aufgerissen hatte.
    Becky machte sich von ihm los und stieß ihn von sich. Ihr Mund öffnete und schloss sich ein paarmal, so als wollte sie etwas sagen. Dann trat sie näher, holte aus und schlug ihn mit der flachen Hand heftig ins Gesicht. Toms Kopf flog zur Seite, und er taumelte und wäre fast hingefallen.
    Er hielt sich die Wange und stammelte fassungslos: »W… was … a… aber …?«
    Beckys Gesicht war hochrot, sie atmete stoßweise und hielt ihm den ausgestreckten Zeigefinger dicht vor die Nase. »Mach. Das. Nie. Wieder. Tom Sawyer. Hörst du? Ich bin verlobt, vergiss das niemals!«
    ~~~
    »Hat dir jemand eine verpasst? Deine Backe sieht aus, als wärst du zwischen McLintocks Amboss und seinen Hammer geraten.«
    McLintock war der Hufschmied, der den Mietstall in St. Petersburg hatte.
    Tom warf einen kurzen Blick in den Spiegel, der in Mr Dobbins’ Wohnzimmer über einer Kommode angebracht war. Fast konnte man Beckys Handabdruck noch erkennen. Und Joe Harpers Grinsen konnte er auch sehen. Der Sheriff lehnte hinter Tom am Türrahmen, während Mr Dobbins am Herd stand und im Licht der durch das Fenster zwischen dunklen Wolken hereinfallenden Nachmittagssonne ungeschickt einen Kaffee kochte.
    »Das ist ein Sonnenbrand, Joe.«
    »Nur auf einer Seite?«
    »Auf dem Hinweg hat die Sonne auf dieser Seite geschienen, und als ich zurückgeritten bin, hat es geregnet.«
    Joe Harper grinste noch breiter, und Tom wusste, dass er ihm kein Wort glaubte. Das Schlimmste war, dass er recht hatte. Die Wange brannte immer noch. Auch der Ärger über sich selbst brannte. Warum hatte er Becky nur geküsst? Warum hatte sie den Kuss erst erwidert und ihm dann eine Ohrfeige verpasst?
    Harper schwieg, aber das Grinsen blieb wie festgenagelt in seinem Gesicht stehen. Irgendetwas schien dem Sheriff eine unerschütterlich gute Laune zu bescheren, seit er und Tom sich vor wenigen Augenblicken an der Haustür des Dorflehrers begegnet waren. Joe Harper aufrecht im Sattel, wie die Statue eines Reitergenerals, mit buschigem Schnurrbart, weißen Handschuhen, einem schwarz glänzenden Ledermantel und einem Gesicht wie frisch gebügelt. Tom hingegen war durchnässt, seine Hutkrempe hing herunter, er war unrasiert und steckte in denselben Kleidern wie vor zwei Tagen.
    Auf dem Weg durch den Wolkenbruch von Marion City nach St. Petersburg war zudem die Müdigkeit zurückgekehrt und drückte auf Toms Schultern wie das Joch eines Ochsen. Zu Toms Überraschung wollte Harper mit dem Dorflehrer wegen Hatties Verschwinden sprechen – genau wie er selbst.
    Die Männer hatten sich aneinander vorbei in die enge Stube gedrückt und einander belauert, während Dobbins versuchte, ein guter Gastgeber zu sein und die Pflichten seines Hausmädchens zu übernehmen. Er kochte Kaffee, wobei er die Hälfte des Pulvers über seinen abgewetzten königsblauen Gehrock schüttete und es zwischen die Ritzen der Bodenbretter rieselte.
    »Ich fürchte, der Kaffee ist recht dünn geworden, Gentlemen«, sagte er entschuldigend, als er vom Herd an den Tisch trat. »Ich weiß nicht genau, wie viel sie immer nimmt. Ich habe auch Zucker, falls ihr möchtet.«
    Der Lehrer stellte eine Kanne Kaffee und drei Tassen auf den Tisch zwischen einen Stapel Schulhefte, ein Notizbuch und ein aufgeschlagenes Album, in das gepresste Blüten und Blätter eingeklebt waren.
    In einer dünnen, spinnengleichen Handschrift waren Namen, Daten und Notizen neben den Blüten eingetragen. Dobbins schlug einen dicken Wälzer mit Abbildungen von Pflanzen zu, setzte sich und wies auf zwei freie Stühle. »Bitte, Gentlemen. Bedient euch.«
    Tom setzte sich auf einen der Stühle am Tisch, goss sich den zähflüssigen pechschwarzen Kaffee ein und gab vier Löffel Zucker dazu. Joe Harper löste sich langsam vom Türrahmen und blieb am Tisch stehen, während auch er sich eine Tasse einschenkte.
    Niemand sagte etwas. Dobbins rührte mit seinem Finger in der Tasse, leckte ihn ab und blickte aufmunternd zu den beiden grimmig schweigenden Männern. »Nun gut. Du hast gesagt, du willst mit mir über Hattie sprechen, Joe. Und du hast das Gleiche zu mir gesagt, Tom, also nehme ich an, ihr wollt mir ein paar Fragen stellen.«
    Tom nickte, und Joe brummelte etwas Unverständliches. Dobbins seufzte, als wären sie noch immer zwei ungezogene, maulfaule Schüler. Er blickte erwartungsvoll über die Gläser seiner randlosen Brille und wies dann auf die gepressten Blüten auf dem Tisch.

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