Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
ihre Titten und treibt’s danach mit den Zugpferden!«
Tom blinzelte. Er hatte das Gefühl, Lucys Worte würden in seinem Kopf gerade Runden drehen wie Kaffeebohnen in einer Mühle, und nur ganz langsam würde das Pulver in seinen Verstand rieseln. Etwas war sehr wichtig an dem, was sie gesagt hatte, und noch etwas war wichtig, etwas mit einer Tür und der Tafel darüber. Was war das nur? Und über all diesen zähflüssigen Gedanken kreiste immer noch das Bild von Becky, die ihm gerade eine gescheuert hatte und ihn nun strafend musterte.
Gott verflucht, was machst du immer noch in meinem Kopf?
»’etzt geh schon weg!«
»Ach herrje. Bin ich dir zu dürr? Soll ich lieber die dicke Iris holen? Oder bist du ein Perverser und stehst auf Jungs, oder was ist los?«
»Hä?« Tom blickte an sich hinab und sah dann, was sie meinte. Anklagend wies sie mit der Hand auf seinen Pimmel, der gerade mal auf halbmast stand. Na toll.
Lucy kratzte sich an der Brust und verschränkte dann die Arme. »Ich kann’s auch noch ’ne halbe Stunde probieren, Cowboy, aber die zahlst du mir, verstanden?«
Tom ließ den Kopf aufs Bett zurückfallen. Was war nur los mit ihm? Der Whiskey? Der Schlafmangel? Dobbins’ Tee? Die verdammte Becky, die in seinem Kopf herumspukte und ihn tadelnd musterte? Wie sollte man bei dem bösen Blick auch einen hochkriegen? Er öffnete die Augen einen kleinen Spalt.
Lucy musterte ihn immer noch fragend. »Und? Soll ich weitermachen?«
Tom versuchte erneut zu nicken. Seine Lider waren bleischwer. Sein Finger stieß kraftlos in die Luft. »Mach weiter, sur Hölle. Und jetzt gibbse dir mal richtich Mühe!«
~~~
Sie küsste ihn auf die Wange, leckte ihn regelrecht ab.
»Lass das, ich will das nicht.«
Tom schob sie im Halbschlaf zur Seite, dann bemerkte er, dass ihr Gesicht behaart war und dass sie nach nassem Hund roch. Er blinzelte und öffnete mühsam die Augen. Es war dunkel, und es nieselte.
Hollis leckte ihm das Gesicht ab.
Augenblicklich fing Tom an zu frieren. Er lag im Matsch, in der Gasse hinter dem Hurenhaus von Madame Pauline. Dumpf erinnerte er sich, dass er dort gewesen war, dass er Unmengen von Whiskey getrunken hatte und schließlich in einem Zimmer gelandet war.
Von drinnen war gedämpftes Klavierspiel zu hören und das Johlen der Männer, die offenbar eine neue Bühnenkünstlerin feierten. Man hatte ihn anscheinend hinausgetragen und seine Hose und die Stiefel neben ihn geworfen. Vermutlich hatte Lucy ihn auch ausgeplündert. Wie lange hatte er hier gelegen? Eine Stunde? Zwei? Oder nur ein paar Minuten?
Tom stöhnte und versuchte langsam, den Kopf aus der Pfütze zu heben, in der er lag. Der Whiskey dröhnte in seinem Schädel, und Hollis leckte ihm noch immer über das Gesicht.
»Jetzt hör schon auf, Hollis.«
Kraftlos schob Tom den Hund weg und stemmte sich auf Knie und Hände hoch. Ihm wurde schlecht. Wie konnte der Whiskey nur so verheerende Folgen haben? Das war ihm noch nie passiert. Tom fühlte sich sterbenselend, als er mühsam auf einem Bein hüpfend in seine Hose schlüpfte. Die Stiefel waren so dreckig, als wären sie aus Lehm geformt, und sie machten ein schmatzendes Geräusch, als Tom hineinschlüpfte. Was war heute nur in ihn gefahren? Erst dieser lächerliche Versuch, Becky zu küssen, und dann dieser erbärmliche Auftritt im Hurenhaus. Hollis sah winselnd zu ihm auf.
Tom fuhr sich durch die Haare, dann ging ihm auf, dass er von Kopf bis Fuß mit Matsch verdreckt war. Schwankend lief er ein paar Schritte zur nächsten Häuserecke und stellte sich direkt unter das dünne Rinnsal, das aus einer Dachrinne zu Boden plätscherte. Er wusch sich mit dem Wasserstrahl den Matsch aus dem Gesicht und schloss die Augen.
So konnte es nicht weitergehen.
Er brauchte einen klaren Kopf, und er wurde das Gefühl nicht los, dass er keinen Schritt weitergekommen war, seit er angefangen hatte, nach dem Mörder seiner Tante zu suchen. Ein Code, den er entschlüsseln musste, seltsame Stöckchen in einer Seifenschachtel, ein Bastpüppchen mit langen Haaren, Kaninchen, wo es keine geben durfte, verschwundene Frauen, von denen eine seinen Bruder treffen wollte, und sein bester Freund, der sich selbst einen Bauchschuss verpasste.
In Toms Kopf drehte sich alles, und er wusste nicht, ob es die zahlreichen Hinweise waren, die zu keiner brauchbaren Spur führten, oder der Whiskey, der seinen Verstand trübte. Sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb, während er dastand und sich das Wasser
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