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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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die Fesseln auf Toms Rücken. Aber der Schornstein ragte bereits über Tom auf. Es würde nicht reichen. Niemals.
    »Schneller!«, fuhr er den Jungen an, und der stieß die Klinge in das Seil und zerrte daran. Die Lokomotive war schon fast bei ihnen, als das Seil endlich zerriss und Tom sich schreiend von den Schienen rollte und den Jungen mit sich zog. Die Wucht des Luftzugs nahm Tom den Atem. Der Lärm der stampfenden Räder und der ratternden Wagen machte ihn taub.
    Dann erinnerte er sich an nichts mehr.
    ~~~
    Das Stampfen und Rattern des Zuges war nicht vorbei. Es blieb. Tom stand auf der Plattform der Lokomotive und starrte in den Höllenschlund des Kessels, in den der Heizer unablässig Kohlen schippte. Es war brütend heiß. Eine glühende Kohle fiel aus dem Kessel, und einer Eingebung folgend hob Tom sie auf. Er hielt sie in der Hand und betrachtete sie eine Weile, ohne sich dabei zu verbrennen, und plötzlich ging ihm auf, dass er träumte. Er hatte seit Wochen nicht mehr geträumt. Es war so ungewöhnlich, dass er den Heizer ansprach, einen groß gewachsenen Mann, der in einem schwarzen Anzug mit dem Rücken zu ihm stand.
    »Ich träume.«
    »Ja«, sagte der Mann und drehte sich um. »Das ist gut, Sawyer. Aber nicht zu lange. Sie wissen ja, was passieren kann.«
    Es war der Präsident. Aus der Austrittswunde in seiner Stirn lief ein dünner Faden Blut.
    Tom nickte. »Ja, Mr President. Das weiß ich. Wie komme ich hier raus? Können wir den Zug anhalten?«
    Abraham Lincoln hob die Hände in einer Geste des Bedauerns. »Tut mir leid, Thomas, ich fürchte, das ist nicht möglich. Wir müssen nach Springfield. Mein Sarg wird dort aufgebahrt. Die Menschen warten schon.«
    Tom blickte an dem Kessel vorbei und sah in der Ferne den breiten braunen Streifen Wasser. Die Eisenbahn fuhr direkt darauf zu.
    »Aber Mr President, Sir. Das da vorn ist der Mississippi. Sie sind schon viel zu weit gefahren.«
    »Seien Sie nicht albern, Thomas. Wir kommen von Westen. Nach einem Halt in Marion City werden wir durch den Fluss fahren.«
    »Durch den Fluss?«
    »Sicher. Wie sollen wir denn sonst auf die andere Seite kommen? Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, Thomas.« Der Präsident griff nach der Schaufel und schippte weiter Kohlen in den Kessel.
    Tom erkannte plötzlich, dass er verschwinden musste. Der Präsident war tot; verständlich, dass ihn die Fahrt durch den Fluss nicht weiter beunruhigte. Schnell wandte Tom sich um, und dort, wo der Kohlentender hätte sein müssen, war eine Tür. Er trat hindurch und stand in einem Waggon, der aussah wie Madame Paulines Hurenhaus. Die Menge feierte ausgelassen eine Nummer auf der Bühne, und Tom sah zu seinem Entsetzen, dass Hollis dort in einem Käfig steckte und Dale, Jeb, Insatiable Iris und Huck Finn um den Käfig herumstanden, mit den Armen durch die Gitterstäbe griffen und nach dem bellenden Hund fassten. Tom schluckte. Sie sahen hungrig aus. Würden sie Hollis aufessen? Er schrie, in der Hoffnung, sie abzulenken.
    »Der Zug fährt in den Fluss! Wir müssen alle hier raus!«
    Doch niemand achtete auf ihn. Nur Becky, die plötzlich vor ihm stand, schüttelte betroffen den Kopf. »Du denkst immer nur an dich, Tom. Und was ist mit mir? Kannst du nicht ein Mal an mich denken?«
    Becky trug ein Kleid aus Blättern des St. Petersburg Chronicle, das vorn so weit geschlitzt war, dass man ihren nackten Busen sehen konnte.
    »Willst du nicht ein Mal den Himmel auf Erden erleben?«, fragte sie und gab ihm eine Ohrfeige.
    Bevor Tom etwas sagen konnte, nahm sie seine Hand und zog ihn die Treppe hinauf. Tom blickte zu den Schiefertafeln über den Türen im ersten Stock und sah, dass irgendjemand auf jede Tafel geschrieben hatte: SONDERERMITTLER AMOS T. CRITTENDEN . Tom versuchte, sich aus Beckys Griff zu lösen. Hektisch deutete er auf die Tafeln: »Da ist es doch! Becky! Da steht’s doch!«
    Doch Becky hörte nicht auf ihn. Ihre Hand umschloss die seine wie ein Schraubstock, sie riss ihn mit und stieß eine Tür auf. Dahinter war nichts als Nebel. Ganz allmählich erkannte Tom die Umrisse von Häusern, die halb versunken waren. Er stand bis zu den Knien in Wasser. Becky zog ihn mit sich, bis sie vor einem Haus stehen blieb, bei dem nur noch der Türsturz aus dem Wasser ragte. »Muldrow Square 12 « war in den rötlichen Sandstein gemeißelt.
    Becky sah ihn an, in ihren Augen schimmerten Tränen. »Ich bin verlobt, Tom. Vergiss das nie«, sagte sie, und dann küsste sie ihn und schob

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